Samstag, 9. Dezember 2023

Ein byzantinischer Kaiser am Hofe Heinrichs - Cappella Romana



Der Titel der rezensierten CD ruft Fragen auf. Was macht ein byzantinischer Kaiser am Hofe eines englischen Monarchen? Diese Episode in der englischen Geschichte ist möglicherweise wenig bekannt, und es ist schön, dass Alexander Lingas, Gründer und Leiter der Cappella Romana, in seiner Programmerläuterung den Hintergrund eines Programms mit liturgischer Musik aus zwei sehr unterschiedlichen Traditionen beleuchtet.

Der byzantinische Kaiser, auf den sich der Titel bezieht, war Manuel II. Palaiologos (1350-1425). Als er 1392 gekrönt wurde, befand sich Byzanz in einer tiefen Krise. Das lag am ständigen Druck des Osmanischen Reiches. 1373 war es den osmanischen Türken gelungen, Manuels Vater zu ihrem Vasallen zu machen. Als er Kaiser wurde, versuchte Manuel, die Unabhängigkeit wiederzugewinnen und suchte Unterstützung bei christlichen Herrschern in Europa. Ende der 1390er Jahre bat er die Monarchen Frankreichs und Englands sowie den Papst in Rom um Hilfe. Beide Monarchien reagierten positiv. Manuel erkannte jedoch, dass er persönlich in die beiden Länder gehen musste, um sicherzustellen, dass die Unterstützung substanziell war. Im Frühjahr 1400 ließ er sich in Paris nieder, wo er zwei Jahre blieb. Kurz nach seiner Ankunft suchte er nach einer Möglichkeit, den englischen König Heinrich IV. zu besuchen, der im Oktober 1399 die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte. Im Dezember überquerte er den Kanal und am 21. Dezember begegneten sich die beiden Monarchen. Im Eltham Palace feierten sie gemeinsam Weihnachten, und das ist der Ausgangspunkt des Programms, das Lingas mit seiner Cappella Romana aufnahm.

Wenn Monarchen anderswohin reisten, taten sie dies nie ohne ihre Kapelle in ihrem Gefolge. Das war in diesem Fall nicht anders. Es ist bekannt, dass die Feierlichkeiten grossartig und teuer waren, es sind jedoch keine Einzelheiten über die aufgeführte Musik erhalten. Daher kann es sich bei dem Programm dieser CD nicht um eine Rekonstruktion handeln. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die Monarchen den Messen des Anderen beiwohnten. Auf dieser CD werden abwechselnd Gesänge beider Traditionen aufgeführt. Damit entsteht eine Konfrontation, die es damals wohl nicht gegeben hat. Auf diese Weise werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dargestellt, was für den heutigen Hörer besonders interessant ist. Im Textheft gibt es viele Informationen über die einzelnen Werke und ihren Platz in der jeweiligen liturgischen Tradition (übrigens nur auf englisch). Den meisten Musikliebhabern im Westen wird die byzantische liturgische Musik unbekannt sein, und diese CD bietet einen faszinierenden Einblick in diese einzigartige Welt. Wer die Musik der russisch-orthodoxen Kirche kennt, wird einiges wiedererkennen, vor allem die Dominanz der tiefen Stimmen.

Eine Gemeinsamkeit der englischen und der byzantinischen Tradition ist die Erweiterung liturgischer Gesänge. In England wurde das erreicht, in dem Gegenstimmen hinzugefügt wurden, oft improvisiert; man könnte es eine 'vertikale Erweiterung' nennen. In der byzantinischen Tradition fand eine 'horizontale Erweiterung' statt mit Hilfe der Technik der Kalophōnía. Dabei handelt es sich um eine Anhebung der Virtuosität und den Einschub von Passagen auf abstrakten Silben wie anané und terirém. Auch der Text konnte erweitert werden, und darin liegt eine Gemeinsamkeit mit der westlichen Tradition der Tropierung.

Der Leser wird verstehen, dass es sich hier um eine höchst interessante Produktion handelt. Das ganze Konzept ist aufschlussreich, und die Cappella Romana, die sich in solchem Repertoire spezialisiert hat, setzt es auf ganz überzeugende Weise um. Der Gesang ist allererste Sahne, sowohl in den Werken der englischen Tradition, wo auch die hohen Stimmen zu hören sind, als in den byzantischen Gesängen, wo man die Qualität der tieferen Stimmen bewundern kann.

Wer mit Weihnachten mal was anderes hören möchte, als was in Rundfunk und Fernsehen in den letzten Wochen des Jahres angeboten wird, soll sich diese CD zulegen.

"A Byzantine Emperor at King Henry's Court"
Cappella Romana/Alexander Lingas
Cappella Romana CR427 (© 2023) details

Kuhnau: Uns ist ein Kind geboren - Peter Gortner

Die geistliche Musik im Deutschland des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts - grob gesagt: zwischen Schütz und Bach - hat lange Zei...