Critica Musica
Johan van Veen
Samstag, 9. Dezember 2023
Ein byzantinischer Kaiser am Hofe Heinrichs - Cappella Romana
Der Titel der rezensierten CD ruft Fragen auf. Was macht ein byzantinischer Kaiser am Hofe eines englischen Monarchen? Diese Episode in der englischen Geschichte ist möglicherweise wenig bekannt, und es ist schön, dass Alexander Lingas, Gründer und Leiter der Cappella Romana, in seiner Programmerläuterung den Hintergrund eines Programms mit liturgischer Musik aus zwei sehr unterschiedlichen Traditionen beleuchtet.
Der byzantinische Kaiser, auf den sich der Titel bezieht, war Manuel II. Palaiologos (1350-1425). Als er 1392 gekrönt wurde, befand sich Byzanz in einer tiefen Krise. Das lag am ständigen Druck des Osmanischen Reiches. 1373 war es den osmanischen Türken gelungen, Manuels Vater zu ihrem Vasallen zu machen. Als er Kaiser wurde, versuchte Manuel, die Unabhängigkeit wiederzugewinnen und suchte Unterstützung bei christlichen Herrschern in Europa. Ende der 1390er Jahre bat er die Monarchen Frankreichs und Englands sowie den Papst in Rom um Hilfe. Beide Monarchien reagierten positiv. Manuel erkannte jedoch, dass er persönlich in die beiden Länder gehen musste, um sicherzustellen, dass die Unterstützung substanziell war. Im Frühjahr 1400 ließ er sich in Paris nieder, wo er zwei Jahre blieb. Kurz nach seiner Ankunft suchte er nach einer Möglichkeit, den englischen König Heinrich IV. zu besuchen, der im Oktober 1399 die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte. Im Dezember überquerte er den Kanal und am 21. Dezember begegneten sich die beiden Monarchen. Im Eltham Palace feierten sie gemeinsam Weihnachten, und das ist der Ausgangspunkt des Programms, das Lingas mit seiner Cappella Romana aufnahm.
Wenn Monarchen anderswohin reisten, taten sie dies nie ohne ihre Kapelle in ihrem Gefolge. Das war in diesem Fall nicht anders. Es ist bekannt, dass die Feierlichkeiten grossartig und teuer waren, es sind jedoch keine Einzelheiten über die aufgeführte Musik erhalten. Daher kann es sich bei dem Programm dieser CD nicht um eine Rekonstruktion handeln. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die Monarchen den Messen des Anderen beiwohnten. Auf dieser CD werden abwechselnd Gesänge beider Traditionen aufgeführt. Damit entsteht eine Konfrontation, die es damals wohl nicht gegeben hat. Auf diese Weise werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dargestellt, was für den heutigen Hörer besonders interessant ist. Im Textheft gibt es viele Informationen über die einzelnen Werke und ihren Platz in der jeweiligen liturgischen Tradition (übrigens nur auf englisch). Den meisten Musikliebhabern im Westen wird die byzantische liturgische Musik unbekannt sein, und diese CD bietet einen faszinierenden Einblick in diese einzigartige Welt. Wer die Musik der russisch-orthodoxen Kirche kennt, wird einiges wiedererkennen, vor allem die Dominanz der tiefen Stimmen.
Eine Gemeinsamkeit der englischen und der byzantinischen Tradition ist die Erweiterung liturgischer Gesänge. In England wurde das erreicht, in dem Gegenstimmen hinzugefügt wurden, oft improvisiert; man könnte es eine 'vertikale Erweiterung' nennen. In der byzantinischen Tradition fand eine 'horizontale Erweiterung' statt mit Hilfe der Technik der Kalophōnía. Dabei handelt es sich um eine Anhebung der Virtuosität und den Einschub von Passagen auf abstrakten Silben wie anané und terirém. Auch der Text konnte erweitert werden, und darin liegt eine Gemeinsamkeit mit der westlichen Tradition der Tropierung.
Der Leser wird verstehen, dass es sich hier um eine höchst interessante Produktion handelt. Das ganze Konzept ist aufschlussreich, und die Cappella Romana, die sich in solchem Repertoire spezialisiert hat, setzt es auf ganz überzeugende Weise um. Der Gesang ist allererste Sahne, sowohl in den Werken der englischen Tradition, wo auch die hohen Stimmen zu hören sind, als in den byzantischen Gesängen, wo man die Qualität der tieferen Stimmen bewundern kann.
Wer mit Weihnachten mal was anderes hören möchte, als was in Rundfunk und Fernsehen in den letzten Wochen des Jahres angeboten wird, soll sich diese CD zulegen.
"A Byzantine Emperor at King Henry's Court"
Cappella Romana/Alexander Lingas
Cappella Romana CR427 (© 2023) details
Mittwoch, 29. November 2023
Philarmonica - Le Consort
Als sich der Barock auf dem Kontinent schon längst etabliert hatte, wurde die Musikszene in England noch vom 'alten Stil' beherrscht. Das änderte sich mit der Restauration der Monarchie. Als Karl II. den Thron bestieg, strebte er eine Reform des Musiklebens am Hofe an. Statt der traditionellen 'fancies' möchte er die neueste Musik hören, die er kennengelernt hat während seines Exils in Paris. Das hatte einen grossen Einfluss auf das musikalische Klima. Zunächst hielt der französische Stil seinen Einzug, dann der italienische. Ein Vertreter des letzteren war Nicola Matteis; der gebürtige Italiener erstaunte sein Publikum mit seinem Spiel auf der Geige. So etwas hatte man noch nie gehört. Allerdings fiel es ihm nicht leicht, sich mit den Gewohnheiten und Vorzügen der englischen Musikliebhaber anzufreunden. Allmählich machte er, was bei ihnen gut ankam. In den gedruckten Ausgaben seiner Werke markierte er Doppelgriffe und andere Schwierigkeiten, so dass jene, die damit Probleme hatten, sie weglassen konnten. Ausserdem bot er die Möglichkeit, seine Stücke auf der Blockflöte zu spielen. Das war, vor allem unter Laien, ein sehr beliebtes Instrument. Schliesslich veröffentlichte er auch mehrstimmige Fassungen seiner Werke, und damit zollte er der Tradition des Consortspiels Tribut. Eben in dieser Form hat das französische Ensemble Le Consort einige seiner Werke eingespielt.
Das Ensemble hat ein Programm zusammengestellt, das englische Musik enthält, die in den Jahrzehnten um 1700 komponiert wurde. Die zweite Hauptfigur ist eine gewisse Mrs Philarmonica, von der wir überhaupt nichts wissen. Es ist zweifellos ein Pseudonym, aber wer sich dahinter verbirgt, ist ein Rätsel. Um 1715 veröffentlichte sie eine Sammlung von zwölf Sonaten in zwei Abschnitte. Sie zeigen einen starken Einfluss des italienischen Stils und bezeugen, wie England einer wahren Corellimanie zum Opfer gefallen war. Le Consort spielt aus beiden Abschnitten je zwei Sonaten. Es ist unverständlich, dass diese Stücke bis dato kaum Beachtung gefunden haben. Ich habe in meiner Sammlung eine CD des Ensembles Spirit of Musicke (Spimus Records, 2020), die Werken von Komponistinnen des 17. und 18 Jahrhunderts gewidmet ist, und darauf stehen auch die sechs Sonaten des zweiten Abschnitts dieser Sammlung. Ansonsten bin ich dieser Name noch nie begegnet. Diese Sonaten sind für zwei Violinen und Basso continuo komponiert. Spirit of Musicke spielt sie auf Blockflöte und Violine. Dagegen ist historisch nicht viel einzuwenden, vor allem wegen der schon erwähnten Beliebtheit der Blockflöte. Musikalisch finde ich die Besetzung mit zwei Geigen, wie in der Aufnahme von Le Consort, befriedigender, vor allem wegen der begrenzten dynamischen Möglichkeiten der Blockflöte. Im Programm von Le Consort ist auch Henry Purcell vertreten; in seiner Instrumentalmusik ist der italienische Einfluss besonders ausgeprägt.
Le Consort hat sich in den letzten Jahren als ein hochkarätiges Ensemble erwiesen, und auch die hier besprochene CD zeugt von den grossen Qualitäten des Ensembles. Dass Matteis' Musik hier in einer Form gespielt wird, die man selten hört, und eine Komponistin vorgestellt wird, die nur die wenigsten kennen werden, ist ein zusätzliches Argument, sich diese CD zu ergattern.
"Mrs Philarmonica"
Le Consort
Alpha 1101 (© 2023) details
Das Ensemble hat ein Programm zusammengestellt, das englische Musik enthält, die in den Jahrzehnten um 1700 komponiert wurde. Die zweite Hauptfigur ist eine gewisse Mrs Philarmonica, von der wir überhaupt nichts wissen. Es ist zweifellos ein Pseudonym, aber wer sich dahinter verbirgt, ist ein Rätsel. Um 1715 veröffentlichte sie eine Sammlung von zwölf Sonaten in zwei Abschnitte. Sie zeigen einen starken Einfluss des italienischen Stils und bezeugen, wie England einer wahren Corellimanie zum Opfer gefallen war. Le Consort spielt aus beiden Abschnitten je zwei Sonaten. Es ist unverständlich, dass diese Stücke bis dato kaum Beachtung gefunden haben. Ich habe in meiner Sammlung eine CD des Ensembles Spirit of Musicke (Spimus Records, 2020), die Werken von Komponistinnen des 17. und 18 Jahrhunderts gewidmet ist, und darauf stehen auch die sechs Sonaten des zweiten Abschnitts dieser Sammlung. Ansonsten bin ich dieser Name noch nie begegnet. Diese Sonaten sind für zwei Violinen und Basso continuo komponiert. Spirit of Musicke spielt sie auf Blockflöte und Violine. Dagegen ist historisch nicht viel einzuwenden, vor allem wegen der schon erwähnten Beliebtheit der Blockflöte. Musikalisch finde ich die Besetzung mit zwei Geigen, wie in der Aufnahme von Le Consort, befriedigender, vor allem wegen der begrenzten dynamischen Möglichkeiten der Blockflöte. Im Programm von Le Consort ist auch Henry Purcell vertreten; in seiner Instrumentalmusik ist der italienische Einfluss besonders ausgeprägt.
Le Consort hat sich in den letzten Jahren als ein hochkarätiges Ensemble erwiesen, und auch die hier besprochene CD zeugt von den grossen Qualitäten des Ensembles. Dass Matteis' Musik hier in einer Form gespielt wird, die man selten hört, und eine Komponistin vorgestellt wird, die nur die wenigsten kennen werden, ist ein zusätzliches Argument, sich diese CD zu ergattern.
"Mrs Philarmonica"
Le Consort
Alpha 1101 (© 2023) details
Donnerstag, 23. November 2023
Godecharle: Harfenquartette - Société Lunaire
Die hier zu rezensierende CD zeugt vom wachsenden Interesse an der Musik, die im 18. Jahrhundert in den österreichischen Niederlanden - heute als Belgien bekannt - komponiert wurde. In den letzten Jahren sind verschiedene Aufnahmen mit solchem Repertoire erschienen. Diese Region konnte auf eine glänzende Vergangenheit zurückblicken. Die meisten Komponisten der franco-flämischen Schule der Hochrenaissance waren in dieser Region geboren, damals unter der Herrschaft der Habsburger. Das 17. Jahrhundert war eine Zeit des Verfalls, aber als mit dem Frieden von Utrecht (1713) die Region unter österreichische Herrschaft kam, setzte ein Wirtschaftswachstum ein, dass sich auch positiv auf das kulturelle Leben, und damit den Musikbetrieb, auswirkte. Unter den Komponisten, die im 18. Jahrhundert dort aktiv waren, zählen solche wie Henri-Jacques De Croes, Pierre Van Maldere und die Mitglieder der Familien Loeillet und Fiocco. Ein fast unbekannt gebliebener Komponist ist Eugène Godecharle (1742-1798), der als Geiger ausgebildet wurde und Mitglied der Kapelle des Karl von Lothringen wurde. Ausserdem wirkte er als Kapellmeister in einer Kirche. In den letzten vier Jahren seines Lebens war er als Konzertmeister in der königlichen Kapelle angestellt.
Sein Oeuvre is relativ bescheiden von Umfang und enthält ausschliesslich Instrumentalmusik, von Solosonaten bis Sinfonien. Die Société Lunaire hat eine CD herausgebracht mit dem vollständigen Opus 4: sechs Quartette für Harfe, Violine, Viola und Violoncello. Die Harfe erfreute sich grosser Beliebtheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Paris war ein Zentrum des Harfenspiels - eine der berühmtesten Spielerinnen des Instruments war die königin Marie Antoinette - und es wurde auch viel Musik für die Harfe komponiert. Auch Godecharle spielte die Harfe. Allerdings war das Instrument unter Laien nicht weit verbreitet, da es ziemlich teuer war, und das erklärt, warum Godecharle das Cembalo als Alternative vorschlägt.
Alle sechs Quartette bestehen aus drei Sätzen. Die zweiten Sätze sind entweder ein Rondo oder ein Menuett. Zwei Quartette sind besonders erwähnenswert. Der zweite Satz des dritten Quartetts enthält eine ausgeschriebene Kadenz für die Harfe und die Violine - eine der ganz wenigen im 18. Jahrhundert, schreibt der Harfenist des Ensembles, Maximilian Ehrhardt, im Textheft. Das sechste Quartett hat eine Allemande als letzter Satz - eine typisch barocke Tanz, die in der Klassik nur selten in Musikwerken zu finden ist. In diesen Quartetten spielen die Harfe und die Violine die Hauptrollen, obwohl Viola und Violoncello mehr sind als nur Begleitung.
Diese Quartette sind gut komponierte Werke, und stellen wichtige Bereicherungen des Repertoires für die Harfe dar. Über das Ensemble konnte ich keine Informationen finden, aber ich nehme an, dass es sich hier um seine erste CD-Aufnahme handelt. Es ist eine schöne Aufführung, die sich hören lassen kann. Die vier Mitglieder des Ensembles machen alles richtig. Ehrhardt spielt eine Kopie einer Harfe von Renault & Chatelain aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Peter Bárczi ist der exzellente Geiger, und Viola und Cello werden von Nadine Henrichs und Jule Hinrichsen gespielt. Nicht nur Harfenfreunde werden sich über diese Produktion freuen.
Eugène Godecharle: Sei Quartetti per Harpa, Violino, Viola e Basso Op. IV
Société Lunaire
Ramée RAM 2207 (© 2023) details
Sein Oeuvre is relativ bescheiden von Umfang und enthält ausschliesslich Instrumentalmusik, von Solosonaten bis Sinfonien. Die Société Lunaire hat eine CD herausgebracht mit dem vollständigen Opus 4: sechs Quartette für Harfe, Violine, Viola und Violoncello. Die Harfe erfreute sich grosser Beliebtheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Paris war ein Zentrum des Harfenspiels - eine der berühmtesten Spielerinnen des Instruments war die königin Marie Antoinette - und es wurde auch viel Musik für die Harfe komponiert. Auch Godecharle spielte die Harfe. Allerdings war das Instrument unter Laien nicht weit verbreitet, da es ziemlich teuer war, und das erklärt, warum Godecharle das Cembalo als Alternative vorschlägt.
Alle sechs Quartette bestehen aus drei Sätzen. Die zweiten Sätze sind entweder ein Rondo oder ein Menuett. Zwei Quartette sind besonders erwähnenswert. Der zweite Satz des dritten Quartetts enthält eine ausgeschriebene Kadenz für die Harfe und die Violine - eine der ganz wenigen im 18. Jahrhundert, schreibt der Harfenist des Ensembles, Maximilian Ehrhardt, im Textheft. Das sechste Quartett hat eine Allemande als letzter Satz - eine typisch barocke Tanz, die in der Klassik nur selten in Musikwerken zu finden ist. In diesen Quartetten spielen die Harfe und die Violine die Hauptrollen, obwohl Viola und Violoncello mehr sind als nur Begleitung.
Diese Quartette sind gut komponierte Werke, und stellen wichtige Bereicherungen des Repertoires für die Harfe dar. Über das Ensemble konnte ich keine Informationen finden, aber ich nehme an, dass es sich hier um seine erste CD-Aufnahme handelt. Es ist eine schöne Aufführung, die sich hören lassen kann. Die vier Mitglieder des Ensembles machen alles richtig. Ehrhardt spielt eine Kopie einer Harfe von Renault & Chatelain aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Peter Bárczi ist der exzellente Geiger, und Viola und Cello werden von Nadine Henrichs und Jule Hinrichsen gespielt. Nicht nur Harfenfreunde werden sich über diese Produktion freuen.
Eugène Godecharle: Sei Quartetti per Harpa, Violino, Viola e Basso Op. IV
Société Lunaire
Ramée RAM 2207 (© 2023) details
Dienstag, 7. November 2023
Charpentier: Te Deum - Valentin Tournet
Der Text des Te Deum ist im Verlaufe der Geschichte häufig vertont worden. Das Werk wurde meistens aufgeführt, wenn es etwas zu feiern gab, beispielsweise einen Sieg im Krieg oder ein Friedensabkommen. Das wohl berühmteste Te Deum stammt von Marc-Antoine Charpentier: die Prélude wird überall in der Welt oft gespielt, und es gibt viele Aufnahmen des gesamten Werkes. Brauchen wir noch eine Aufnahme? Vielleicht nicht unbedingt, wie gut die Neueinspielung von Valentin Tournet auch sein mag. Eine Besonderheit ist, dass hier das Werk eingeleitet wird von vier Stücken für Bläser und Pauken von Jacques Danican Philidor, was die Verbindung zwischen dem Werk und dem Sieg Frankreichs im Schlacht zu Steinkerque - wahrscheinlich der Anlass zur Komposition dieses Te Deum - unterstreicht. Das letzte Stück ist ein Solo für die Pauken, und darauf folgt die Prélude aus dem Te Deum attacca.
Wichtiger in Sachen Repertoire sind die beiden weiteren Werken in dieser Produktion. Das gilt insbesondere für De profundis, eine Vertonung des Psalms 129 (130), eines der sieben Busspsalmen. Dieser Psalm war aber auch Teil des Totenoffiziums, und deswegen werden am Ende des Psalms die Eröffnungsworte des Requiems gesungen. Charpentiers Vertonung ist für acht bis neun Stimmen, Streicher und zwei Flöten gesetzt. Nach einer instrumentalen Einleitung erklingt der erste Vers, der nach einem weiteren instrumentalen Abschnitt wiederholt wird, dann aber in einer erweiterten Besetzung, was die Dringlichkeit des Gebets unterstreicht. Es ist eines der Merkmale dieses eindringlichen und ausdrucksstarken Werkes, das viel bekannter sein sollte als es ist. Es ist ein Meisterwerk, wie so viele Kompositionen Charpentiers.
Das dritte Werk ist ein Magnificat, und auch dabei handelt es sich um einen oft vertonten Text, da dieser Lobgesang der Maria Teil der Vesperliturgie ist. Kein Wunder, dass es im Oeuvre von Charpentier zehn verschiedene Vertonungen gibt. Die hier aufgeführte heisst Troisième Magnificat à 4 voix avec instruments und stammt aus den frühen 1690er Jahren. Der Chor nimmt hier den wichtigsten Platz ein; die Solisten spielen eine untergeordnete Rolle.
Obwohl die Solisten nicht ganz frei von einem unerwünschten (leichten) Vibrato sind, ist der Eindruck dieser Einspielung überwiegend positiv. Das gilt insbesondere für das De profundis und das Magnificat. Es ist heutzutage Mode, Charpentiers Te Deum im Eiltempo darzustellen. Der Rekordhalter scheint mir Hervé Niquet zu sein (Glossa, 2001), aber Tournet hat ihn auf den Fersen. Ich weiss nicht, ob Charpentier das beabsichtigt hat. Es ist aufregend, aber ich bevorzuge ein etwas gemässigteres Tempo.
Wie dem auch sei, jeder Liebhaber der Musik von Charpentier sollte sich diese CD ergattern, schon wegen der beiden weniger bekannten Werke, die hier zu hören sind.
Marc-Antoine Charpentier (1643-1704): Te Deum
Gwendoline Blondeel, Cécile Achille, dessus; David Tricou, haute-contre; Mathias Vidal, taille; Geoffroy Buffière, basse-taille; La Chapelle Harmonique/Valentin Tournet
Château de Versailles Spectacles CVS098 (© 2023) details
Donnerstag, 19. Oktober 2023
Sonaten für Violoncello piccolo - Octavie Dostaler-Lalonde
Wenn ich behaupte, die Geschichte des Violoncellos sei einigermassen kompliziert, muss das als eine grosse Untertreibung gelten. Im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde ein bestimmtes Instrument mit verschiedenen Namen versehen, und ein Name konnte für verschiedene Instrumente verwendet werden. Es ist ein schwieriges Unterfangen, festzustellen, um genau welches Instrument es in einem gegebenen Fall handeln könnte. Zu den Instrumenten, die Rätsel aufgeben, gehört das Violoncello piccolo.
Heutzutage wird die sechste Suite für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach meistens auf so einem Instrument gespielt, obwohl es nicht namentlich erwähnt wird. Es wird nur ein Instrument à cinque cordes (mit fünf Saiten) verlangt. In mehreren seiner Kantaten hat Bach dagegen eine obligate Partie eingefügt, die ein Cello piccolo verlangt. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um ein Instrument mit vier Saiten. Daher meint Marc Vanscheeuwijck, einer der wichtigsten Experten auf dem Gebiet des historischen Violoncellos, das Violoncello piccolo konnte entweder vier- oder fünfsaitig sein. Und als wäre die Sache noch nicht verzwickt genug gibt es einen Katalog des Verlags Breitkopf des Jahres 1762, in dem sich 41 Werke finden, die für Violoncello picco oder Violoncello da braccio bestimmt sind. Das erweckt den Eindruck, dass das Violoncello piccolo auf der Schulter gespielt wurde, wie das Violoncello da spalla.
Die kanadische Cellistin Octavie Dostaler-Lalonde kam vor einigen Jahren in den Besitz eines Violoncellos mit vier Saiten, etwas kleiner als das übliche Barockvioloncello. Sie stimmte es wie früher ein Cello piccolo gestimmt wurde (G-d-e-a'). "Das Ergebnis war beeindruckend: der Klang des Instruments wurde hell, kristallklar und farbenreich, mit einer verbesserten Gesangsqualität auf der obersten Saite, jetzt eine Quinte höher als das Standard 'a'." Sie machte sich dann auf der Suche nach Repertoire, dessen Tessitur zu ihrem Instrument passte. Das resultierte in eine CD mit Sonaten für Violoncello und Basso continuo oder ein obligates Tasteninstrument. Vier der sechs eingespielten Werke erscheinen zum ersten Mal auf CD, von Christoph Schaffrath, Franz Benda, Georg Czarth und Joseph Benedikt Zyka. Wie man sieht, sind auf jeden Fall zwei dieser Komponisten nicht oder kaum bekannt. Dazu kommt noch eine Sonate von Anton Filtz, sowie eine von Johann Christoph Friedrich Bach. Im letzten Fall haben die Interpreten das Werk rekonstruieren müssen. Es gibt nur eine Fassung aus dem 19. Jahrhundert, da das Original im zweiten Weltkrieg verloren gegangen ist.
Man wird verstehen, dass es sich hier um eine Produktion handelt, die historisch besonders interessant und aufschlussreich ist. Sie könnte einen Ansatz zu weiteren Untersuchungen zur Verwendung des Violoncello piccolo sein und somit unser Bild der Literatur für dieses Instrument erweitern und verfeinern. Aber auch musikalisch haben wir es hier mit einer Spitzenproduktion zu tun. Dass es vier Ersteinspielungen gibt, ist schon erfreulich, und dazu kommt, dass alle sechs Stücke musikalisch von Bedeutung sind. Octavie Dostaler-Lalonde ist eine hervorragende Musikerin, die einen schönen Ton hervorbringt und eine sprechende und dynamisch differenzierte Interpretation vorlegt. In einer Sonate wird der Basso continuo nur von einem Violoncello dargestellt, auf kreative Weise herausgearbeitet von Victor García García. Und dann gibt es noch Artem Belogurov, der eine Kopie eines Fortepianos von Andreas Stein des Jahres 1783 spielt, und den Basso continuo bzw. die Obligatpartien vorzüglich realisiert. Diese CD ist eine der besten dieses Jahres.
"From Mannheim to Berlin - Sonatas for cello piccolo"
Octavie Dostaler-Lalonde, Violoncello piccolo; Victor García García, Violoncello; Artem Belogurov, Fortepiano
Challenge Classics CC72961 (© 2023) details
Mittwoch, 11. Oktober 2023
Campra: Messe de Requiem - Emmanuelle Haïm
Viele Komponisten der Vergangenheit haben eine Totenmesse komponiert. Sie gehört zum Kernbestand der katholischen Liturgie. Deswegen ist es schon bemerkenswert, dass im französischen Barock fast keine Totenmessen entstanden sind. Auf jeden Fall sind nur zwei solcher Werke bekannt geworden, komponiert von André Campra bzw. Jean Gilles. Kein Wunder also, dass diese Werke in verschiedenen Aufnahmen vorliegen. Jetzt hat Emmanuelle Haïm eine weitere Aufnahme der Totenmesse von Campra vorgelegt.
Campra zeigte immer eine grosse Vorliebe für die Oper. Trotzdem wirkte er anfangs als Kapellmeister an der Notre Dame zu Paris. Als er 1697 mit L'Europe galante einen grossen Erfolg feiern konnte und der Klerus ihn wegen seiner Opernbeschäftigung kritisierte, beschloss er sich ganz dem Musiktheater zu widmen. In den 1720er Jahren kehrte er dann wieder zur Komposition geistlicher Musik zurück. Er veröffentlichte ein Buch mit Motetten, komponierte grands motets sowie drei Messen, darunter die Messe de Requiem, die wahrscheinlich um 1722 entstanden ist. Diese Messe besteht aus einem Introitus, Kyrie I und II, Gradual, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei und Post Communio. Nach französischer Tradition gibt es kein Dies irae und Libera me; Campra unterliess auch das Benedictus. Insgesamt besitzt das Stück eine gewisse Leichtigkeit, was natürlich auch dem Fehlen des Dies irae zuzuschreiben ist. Der wohl ernsthafteste Abschnitt ist das Offertorium.
Die Aufnahme wird erweitert mit zwei sogenannten grands motets: Werke für Singstimmen, Chor und Orchester, meistens auf Texten aus dem Buch der Psalmen. Haïm hat zwei Werke ausgewählt, die thematisch zusammenhängen. In convertendo Dominus von Jean-Philippe Rameau ist eine Vertonung des Psalms 125 (126), der handelt vom Babylonischen Exil des jüdischen Volkes, während In exitu Israel von Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville sich bezieht auf seinen Exodus aus Ägypten; diese Motette ist eine Vertonung des Psalms 113 (114). Beide Werke sind expressiv gestaltet; wichtige Stellen im Text werden musikalisch ausgemalt. Vor allem in der Motette von Mondonville sind Einflüsse der italienischen Oper bemerkbar.
Obwohl sich dann und wann bei den Solist*innen etwas zuviel Vibrato bemerkbar macht, sind ihre Leistungen generell sehr gut; ich war besonders beeindruckt vom Haute-contre Samuel Boden. Auch Chor und Orchester machen einen guten Eindruck. Schade, dass das Textheft so wenig Informationen enthält. Über die Komponisten wird kein Wort verloren; insbesondere über Mondonville hätte etwas gesagt werden sollen, denn er gehört zu den weniger bekannten Komponisten des französischen Barock. Das Textheft enthält die Gesangstexte, aber ohne Übersetzungen; die sind im Internet (Requiem) bzw. in der Bibel (Rameau, Mondonville) zu finden. Alle drei hier aufgenommenen Werke liegen schon in Aufnahmen vor, aber diese Produktion ist ein ernst zu nehmender Konkurrent.
Campra: Messe de Requiem
Marie Perbost, Emanuelle Ifrah, Sopran; Samuel Boden, Haute-contre; Zachary Wilder, Tenor; Victor Sicard, Bariton; Le Concert d'Astrée/Emmanuelle Haïm
Erato 5419750468 (© 2023) details
Montag, 2. Oktober 2023
Frescobaldi und der Süden - Francesco Corti
Girolamo Frescobaldi (1583-1643) ist einer der wichtigsten Komponisten der europäischen Musikgeschichte, jedenfalls im Bereich der Musik für Tasteninstrumente. Die Entwicklung dieser Gattung hat er wesentlich beeinflusst: er übersetzte die Prinzipien des 'neuen Stils', der um 1600 in Italien entstand, auf Cembalo und Orgel, und damit hat er Generationen von Komponisten von Musik für diese Instrumente geprägt. Über seinen Schüler Johann Jacob Froberger reicht sein Einfluss bis Johann Sebastian Bach. Die Gefahr einer solchen Ausnahmestellung ist, dass man so einen Komponisten isoliert betrachtet, als sei er vom Himmel gefallen und hätte er nicht Einflüsse anderer in sich aufgenommen. Francesco Corti betrachtet Frescobaldis Musik für Tasteninstrumente aus dem Blickwinkel des Südens. Vor allem in Neapel gab es eine lebendige Szene im Bereich der Tastenmusik; einige dort wirkende Komponisten gehörten zum Kreis um Carlo Gesualdo, und dessen harmonische Experimente, vor allem in seinen letzten zwei Madrigalbüchern, findet man auch in ihrer Tastenmusik.
Harmonische Experimente sind eine der Verbindungen zwischen diesen Komponisten und Frescobaldi. Eine andere ist die Verwendung eines harmonischen Musters oder einer Basslinie für virtuose Variationen. Solche Stücke waren beliebt durch ganz Europa, aber ganz besonders in Neapel, und auch Frescobaldi hat mehrere solcher Werke komponiert, wie die hier auch aufgenommene Cento Partite sopra Passacagli. Und dann gibt es noch Formen die sich sowohl bei Frescobaldi wie in Neapel finden, wie Toccata und Capriccio, zwei Formen, die in der Improvisationspraxis wurzeln und eine grosse rhythmische Freiheit in der Darstellung verlangen. Tänze dagegen sollten strikt im Takt gespielt werden. Auch davon gibt es einige Beispiele, insbesondere Gagliarden.
Frescobaldis Musik ist ziemlich bekannt, und wer sich in der Tastenmusik des 17. Jahrhunderts auskennt, wird mehrere bekannte und beliebte Stücke finden. Dazu zählt auch das Recercar con obligo di cantare la quinta parte senza tocarla, was Rätsel aufgibt, da die fünfte Stimme gesungen werden sollte, aber es keinen Text gibt. Hier wird diese Stimme von Adrés Locatelli auf der Blockflöte gespielt, was mir eine vertretbare Lösung scheint. Weniger überzeugend ist die Interpretation dieses Werkes auf dem Cembalo; soviel ich weiss, habe ich es immer auf der Orgel gehört, und das scheint mir auch das geeigneste Instrument.
Auch diejenigen, die mehr als durchschnittlige Kenntnisse der italienischen Tastenmusik des 17. Jahrhunderts besitzen, werden hier Stücke hören von Komponisten, die sie vielleicht nicht kennen oder deren Musik man auf jeden Fall sehr selten hört, wie Rocco Rodio, Scipione Stella, Francesco Lambardo und Giovanni Salvatore. Die Verbindung mit Frecobaldi ist aufschlussreich, und damit stellt diese CD sowieso eine bedeutungsvolle Erweiterung der Diskographie dar. Corti ist ein exzellenter Spieler, der das Programm fantasie- und schwungvoll zu Gehör bringt.
"Frescobaldi and the South"
Francesco Corti, Cembalo
Arcana A547 (© 2023) details
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