Freitag, 12. Dezember 2025

Palestrina 500 - Augsburger Domsingknaben, I Fedeli/Stefan Steinemann


Das Jahr 2025 war Palestrina-Jahr, da man annimmt, dass er 1525 geboren wurde. Wie zu erwarten, erschienen mehrere Aufnahmen mit seiner Musik, zum Teil in Kombination mit Werken anderer Meister seiner Zeit. Ich habe nicht alle gehört, aber die hier zu besprechende ist mit Abstand die interessanteste.

Der erste Grund dafür ist, dass das Herzstück des Programms eine Messe bildet, die vermutlich noch nie zuvor aufgenommen wurde. Palestrina komponierte die Missa Fratres ego enim accepi für acht Stimmen in zwei Chören. Mehrchörige Musik wird zwar hauptsächlich mit Venedig in Verbindung gebracht, doch auch Rom hatte in dieser Hinsicht seine eigene Tradition. Es handelt sich um eine Parodiemesse: Sie basiert auf einer Motette aus eigener Feder, deren Text dem ersten Brief des Paulus an die Korinther (Kapitel 11, Verse 23–24) entnommen ist, in dem er auf das von Christus eingesetzte Abendmahl - in der katholischen Lehre die Eucharistie - Bezug nimmt.

Auch die Interpretation ist ein Grund, warum diese Aufnahme sich von anderen unterscheidet. Ein Merkmal ist die dynamische Differenzierung, die schon aus Palestrinas Behandlung der Doppelchörigkeit hervorgeht, aber hier auch vom Dirigenten Stefan Steinemann gepflegt wird. Diese Interpretationen erinnern mich an jene des Chors der Sixtinischen Kapelle unter der Leitung von Massimo Palombella. Es ist bedauerlich, dass seit dessen Entlassung die Experimente in der Aufführungspraxis von Palestrinas Oeuvre offensichtlich zum Stillstand gekommen sind.

Es ist wohl kein Zufall, dass hier versucht wird, Palestrina aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Die Augsburger Domsingknaben, ein Chor von Knaben und jungen Herren, singen zwar ein weitgefächertes Repertoire - aufgrund ihrer Rolle in der Liturgie – aber ihr Schwerpunkt liegt in der alten Musik, auch weil Steinemann ein Experte in diesem Bereich ist.

Weitere Merkmale dieser Aufführungen zeugen von seinem Bestreben, der ursprünglichen Aufführungspraxis von Palestrinas Musik näherzukommen. Dazu gehört die Tonhöhe von 490 Hz. Laut Begleittext ist diese Tonhöhe "in vielen europäischen Kirchen des 16. Jahrhunderts dokumentiert". Ich bin mir da nicht so sicher: Sie scheint eher eine deutsche Besonderheit gewesen zu sein.

Und das führt zu einem weiteren Aspekt dieser Aufführungen: dem Einsatz von Instrumenten. Ich kann mich nicht erinnern, Palestrinas Musik jemals in einer Kombination aus Singstimmen und Instrumenten gehört zu haben. An den Orten, an denen Palestrina wirkte, wurden keine Instrumente verwendet. Die hier aufgeführte Messe stammt aus einer 1601 in Venedig veröffentlichten Sammlung, fast ein Jahrzehnt nach dem Tod des Komponisten. Die Veröffentlichung dieser Messe eröffnet verschiedene Möglichkeiten hinsichtlich der Aufführungspraxis. Die Aufführungen der Augsburger Domsingknaben spiegeln möglicherweise die Aufführungspraxis der Polyphonie im Augsburg des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts wider. Die Geschichte dieses Chors reicht schliesslich bis ins 15. Jahrhundert zurück. Im Süden Deutschlands war der Einsatz von Instrumenten üblich, wenn auch sicherlich nicht bei allen Aufführungen. Das Thema der Motette, auf der die Messe basiert, und die Besetzung sowohl der Motette als auch der Messe für achtstimmigen Doppelchor lassen jedoch auf eine überdurchschnittliche Bedeutung schließen. Dies könnte für den Einsatz von Instrumenten sprechen.

In zwei weiteren Stücken auf dieser CD spielen sie eine wichtige Rolle. In Victorias doppelchörige Motette Ave Maria stellen sie den zweiten Chor dar, und erweitern die Partien mit Diminutionen, wie das damals üblich war. Es zeugt von Einsicht in die damalige Aufführungsumstände, dass William Byrds Motette Miserere mei Deus ohne Instrumente gesungen wird. Diese spielten damals in England keine grosse Rolle, und Byrd komponierte seine Musik für geheime Messen.

Es ist äußerst wertvoll, wenn versucht wird, der Aufführungspraxis der Renaissance-Polyphonie zur Zeit ihrer Entstehung oder Veröffentlichung näherzukommen. Deswegen zählt diese Aufnahme zu den besten und sogar aufregendsten Palestrina-CDs, die ich in den letzten Jahren gehört habe. Die Augsburger Domsingknaben sind ein hervorragender Chor. In Palestrinas Messe gibt es einige Passagen, in denen ein Sopran (derselbe?) solistisch mit Instrumentalbegleitung singt (zum Beispiel das Benedictus), und welch eine großartige Stimme er hat! Der Einsatz von Instrumenten in Palestrinas Musik ist ungewöhnlich, funktioniert hier aber hervorragend, auch dank der Art ihres Einsatzes und der Qualitäten des Ensembles I Fedeli.

Die Aufführungspraxis und ihre Umsetzung verdienen besondere Anerkennung.

"Palestrina 500"
Augsburger Domsingknaben; I Fedeli/Stefan Steinemann
Ars Produktion ARS 38380 (© 2025) Details

Donnerstag, 27. November 2025

Beobachtungen zu Venedig - ensemble feuervogel


Jahrhundertelang hat Venedig auf Menschen aus aller Welt eine grosse Anziehungskraft ausgeübt. Die Gründe waren und sind unterschiedlich: Geschichte, Architektur, bildende Künste, Musik. Im Barock war Venedig eine der unvermeidlichen Stationen auf der 'Grand tour' junger Aristokraten. In Vivaldis Zeit bewunderten Besucher die Aufführungen der Mädchen in den Ospedali. In Monteverdis Zeit war es in erster Linie die Musik, die im Markusdom zu hören war, die Besucher ins Staunen versetzte.

Einer dieser Besucher war der englische Schriftsteller Thomas Coryat (um 1577-1617). Im Jahre 1611 veröffentlichte er einen Reisebericht unter dem Titel Coryat's Crudities hastily gobbled up in Five Months Travels in France, Italy, &c (zu deutsch etwa: Coryats Rohkost: Hastig heruntergeschlungen während einer fünfmonatigen Reise). Seine Ausführungen sind die Grundlage für das Programm, das vom ensemble feuervogel zusammengestellt und eingespielt wurde. Ausschnitte dieses Buches finden sich im Textheft, in der Form eines 'Interviews'.

Das Programm ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Im ersten - 'Der Marktplatz von San Marco - Treffpunkt der Kulturen' - hören wir vor allem Tänze von Giorgio Mainerio (1530/40-1582). Einige dieser Tänze verweisen auf andere Völker, wie die Ungarn (Ungarescha) und die Deutschen (Tedescha). Daneben erklingen zwei Instrumentalwerke von Organisten des Markusdoms, Girolamo Parabosco und Claudio Merulo.

Dann folgt 'Die Bühne der Bänkelsänger — Narren und Stegreifsänger': da steht die Kunst der 'Entertainer' im Mittelpunkt. Ob die zu Gehör gebrachte Musik wirklich der 'Volkskunst' angehört oder eher dem Geschmack der höheren Kreisen angepasst wurde, sei dahingestellt. Auch hier gibt es wieder Tänze, diesmal von Francesco Bendusi (?-1553). Einige verweisen auf Volkslieder. Ein bekanntes Stück ist Chi la gagliarda von Baldassare Donato.

Der dritte Abschnitt heisst 'Venedigs edle Damen — Weisheit und Verführung'. Hier erklingen vor allem Diminutionen auf Madrigale von Cipriano de Rore aus der Feder von Giovanni Bassano. Und Celeste Giglio ist eine Bearbeitung eines damals beliebten Liedes, das als La Monica bekannt ist.

Das Programm endet mit 'Abschied von Venedig — Erinnerung an die strahlende Stadt', und in diesem Abschnitt finden sich weitere Diminutionen von Bassano sowie ein Madrigal von Adrian Willaert, in dem er seine Liebe zu Venedig äussert. Es erklingt auch die vierte von insgesamt vier Ricercares für ein Soloinstrument - hier die Blockflöte - von Bassano. Es sind technisch anspruchsvolle Stücke, die eine wenig bekannte Seite des Komponisten beleuchten.

Aufnahmen mit Musik aus Venedig gibt es viele. Hier wird das Musikleben der Stadt auf eine weniger geläufige Weise dargestellt. Daher ist diese CD eine durchaus sinnvolle Erweiterung der Diskographie. Es ist eine Ode an Venedig, und diese ist gut gelungen. Diese Produktion ist ein farbenreicher Blumenstraus - von Anfang bis Ende variiert und unterhaltsam, auch dank des hervorragenden Spiels der Blockflötisten, in Zusammenarbeit mit Ian Harrison, dem bekannten Spezialisten auf alten Schlaginstrumenten.

"Observations of Venice - Cinquecento consort music"
ensemble feuervogel; Ian Harrison, Schlagzeug
Coviello Classics COV92505 (© 2025) Details

Donnerstag, 20. November 2025

Musik aus einem Frauenkloster des 16. Jahrhunderts - Musica Secreta


"Mulier tacet in ecclesia" - die Frau soll schweigen in der Kirche. Dieses Gebot des Apostels Paulus wurde vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert auf das Singen in der Kirche ausgeweitet. Infolgedessen wurde liturgische Musik von Knaben und Männern gesungen. Aber nicht überall schwiegen die Frauen: in Klöstern hatten sie nicht nur die Gelegenheit zu singen, sondern auch ihre musikalischen Talente zu entwickeln, Instrumente zu spielen und sogar zu komponieren.

Ob die Schwestern im Kloster San Matteo in Arcetri, heute Teil der Stadt Florenz, auch komponiert haben, ist nicht bekannt. Eine Handschrift mit insgesamt 78 Stücken, die mit diesem Kloster in Verbindung gebracht werden konnte, gibt darüber keine Auskünfte. Neben Werken von damals bekannten Meistern gibt es Stücke, deren Komponist nicht erwähnt wird. Diese Sammlung - bekannt als 'Biffoli-Sostegni Handschrift', nach den Schwestern die auf dem Umschlag genannt werden - wird im Königlichen Konservatorium zu Brüssel aufbewahrt, und wurde von einem Mönch, Fra Antonius Morus, zusammengetragen.

Die Stücke zeigen, wie die liturgische Praxis im Kloster aussah. Im Programm, das vom Ensemble Musica Secreta aufgezeichnet wurde, stehen zwei Messen im Mittelpunkt. Es sind beide Parodiemessen, was heisst, dass darin Material aus schon existierenden Werken, wie Madrigalen oder liturgischen Gesängen, verarbeitet wird. Eine dieser Messen basiert auf dem Offertorium Recordare Virgo Mater für das Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariä, das jährlich am 16. März gefeiert wurde, und eines der wichtigsten Ereignisse im Kloster darstellte.

Der Evangelist St Matthäus war der Schutzpatron der Klosters; sein Fest fand am 21. September statt. Dafür ist In illo tempore: vidit Jesus bestimmt. Selbstverständlich gibt es mehrere Gesänge für Maria. Und da die Vespern einer der wichtigsten Teile der Liturgie der katholischen Kirche darstellten, sind auch Vesperpsalmen und das Magnificat eingeschlossen.

Während mehrere Gesänge relativ einfach sind, ist das Magnificat etwas komplizierter, und die Messen sind mit den Werken der bekannten Komponisten der Zeit durchaus vergleichbar. Ob diese Werke speziell für dieses Kloster komponiert wurden, lässt sich nicht feststellen. Es scheint durchaus möglich.

Schliesslich gibt es auch einige Madrigale, aber dann sogenannte 'spirituelle' Madrigale - das war im 16. Jahrhundert eine beliebte Gattung. Sie waren zur Unterhaltung gemeint: die Schwestern konnten auf diese Weise eine damals gängige Art von Musik geniessen, ohne an den amourösen Texten Anstoss nehmen zu müssen.

Die neun Sängerinnen werden in einigen Stücken von Viola da gamba, Laute und Orgel unterstütz. Das waren die einzigen Instrumente, die in einem Kloster erlaubt waren.

Diese Produktion liefert einen faszinierenden Einblick in das tägliche Leben eines Frauenklosters des 16. Jahrhunderts. Der Name des Ensembles Musica Secreta ist sein Programm: es bringt Musik zu Gehör, die lange Zeit verborgen geblieben ist, und sogar in der Zeit des Entstehens sich der Öffentlichkeit entzog. Wie wertvoll es ist, sie in unserer Zeit zu Gehör zu bringen und einem weiteren Kreis zugänglich zu machen, zeigt diese Produktion eindrucksvoll. Musica Secreta fühlt sich hier wie ein Fisch im Wasser.

"Ricordanze - a record of love"
Musica Secreta/Laurie Stras
Lucky Music LCKY005 (© 2025) Details

Donnerstag, 13. November 2025

Tessarini: Sonaten für Traversflöte - Eriko Oi


In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts reisten mehrere italienische Komponisten als Geigenvirtuosen durch Europa. Dazu zählen Pietro Antonio Locatelli und Francesco Maria Veracini. Wie diese wurde auch Carlo Tessarini (um 1690-nach 1766) als Geiger ausgebildet, aber - im Gegensatz zu den soeben genannten - ist er heute so gut wie vergessen.

Er wurde in Rimini geboren; von seiner musikalischen Erziehung wissen wir so gut wie nichts. Er wirkte in Venedig als Kapellmeister am Ospedale dei Santi Giovanni e Paolo und als Geiger am Markusdom. In den 1730er Jahren siedelte er nach Urbino um, wo er in den Dienst des Kathedrals trat. Da hatte er die Gelegenheit als Virtuose durch Europa zu reisen. Auftritte in u.a. Rom, Paris, London und den Niederlanden sind belegt. Sein letztbekannter Auftritt war 1766 in Arnheim in den Niederlanden.

Tessarini hat ein stattliches Oeuvre hinterlassen. Einige Sammlungen gab er selber heraus, andere wurden von renommierten Verlagshäusern veröffentlicht, oft ohne seine Zustimmung. Das sagt etwas über seinen Ruf als Komponist. Der grösste Teil seines Oeuvres ist für sein eigenes Instrument bestimmt, aber im Verlaufe der Zeit wurde die Traversflöte als Alternative erwähnt. Der Grund war zweifellos die wachsende Beliebtheit dieses Instruments unter Laien.

Die Sonaten Op. 14 sind ein gutes Beispiel. Sie wurden zuerst um 1748 in Venedig veröffentlicht, aus Anlass des Friedens von Aix-la-Chapelle, mit dem der Österreichische Erbfolgekrieg (1740-1748) endete. Zwei Jahre später wurden sie in Paris wiederveröffentlicht. Die Traversflöte wird hier neben der Violine erwähnt, und deswegen hat Tessarini typische Merkmale von Musik für die Geige, wie Doppelgriffe, vermieden. Da diese Werke für Laien bestimmt sind, enthalten sie weniger technische Herausforderungen als andere Werke von Tessarini. Obwohl sie sich in der Form grösstenteils ähneln, gibt es auch viel Variation in dieser Sammlung,

Die zweite Sammlung, die Eriko Oi aufgezeichnet hat, ist Il piacer delle dame, facile ariete instrumentali, zuerst um 1745 in Paris gedruckt, dann 1751 wiederveröffentlicht in London unter dem Titel Easy and Familiar airs. Auch diese Stücke sind für Traversflöte oder Violine und Basso continuo geschrieben. Der französische Titel - "das Vergnügen der Damen" - ist vielleicht ein Indiz dafür, dass sie als pädagogisches Material gemeint sind. Die Abwechslung in Länge, Tempo und Charakter, sowie die Tatsache, dass sie hohe Noten und grosse Intervallsprünge enthalten, weisen in diese Richtung.

Die Sonaten Op. 14 wurden schon mal auf der Violine aufgenommen (Valerio Losito; Brilliant Classics, 2019). Es ist schön, dass sie nun auch in alternativer Besetzung vorliegen. Sie haben es sich redlich verdient, und Eriko Oi liefert eine exzellente Interpretation. In der Biografie im Textheft heisst es, sie sei "beim 34. Internationalen Wettbewerb für Alte Musik in Yamanashi mit dem 2. Preis ausgezeichnet worden (der 1. Preis wurde nicht vergeben)". Das ist leicht nachzuvollziehen. Ich bin von ihrem Spiel beeindruckt. Sie erzeugt einen wunderschönen Ton und nutzt den gesamten Tonumfang und die dynamischen Möglichkeiten ihres Instruments wirkungsvoll aus. Sie beweist ein gutes Gespür für den Rhythmus jedes Satzes und den rhetorischen Charakter dieser Sonaten, was sich in ihrer Artikulation und m Kontrast zwischen 'guten' und 'schlechten' Noten zeigt. Tung-Han Hu ist eine hervorragende harmonische und rhythmische Stütze.

Carlo Tessarini: Sei Sonate Op. 14, Il Piacier delle Dame
Eriko Oi, Traversflöte; Tung-Han Hu, Cembalo
Tactus TC 692006 (© 2025) Details

Donnerstag, 30. Oktober 2025

Gaultier de Marseille: Symphonies divisées par suites de tons - Cohaere Ensemble


Im Barock spielten Paris und Versailles die Hauptrolle im französischen Musikleben. Die Musik, die heute aufgeführt wird, stammt fast ausschliesslich von Komponisten, die dort gelebt und gewirkt haben. Was in anderen Regionen komponiert und aufgeführt wurde, erscheint selten auf Konzertprogrammen und auf CD. Die hier diskutierte Aufnahme ist einem Komponisten gewidmet, der zwar in Paris studiert hat, aber sein ganzes Leben im Süden Frankreichs verbracht hat, wie sein Beinamen 'de Marseille' verrät.

Obwohl Pierre Gaultier de Marseille (1642-1696) als Spieler von Tasteninstrumenten ausgebildet wurde, und anfänglich als Lehrer in diesem Bereich sowie in Komposition tätig war, drehte sich seine Karriere ganz um die Oper. Jean-Baptiste Lully erlaubte es ihm 1684 in Marseille eine Musikakademie zu gründen, die mit einer Oper aus seiner eigenen Feder eröffnet wurde. Später führte er mehrere Oper von Lully und noch ein weiteres eigenes Werk auf. Seine beiden Opern sind verlorengegangen, sollten aber ganz im Stile Lullys komponiert worden sein.

Er führte auch Opern in Avignon auf, und dort landete er 1688 ins Gefängnis wegen finanzieller Schulden; er war gezwungen das ganze Besitz seiner Operngesellschaft zu verkaufen. Er blieb aber der Oper treu; in anderen Konstellationen dirigierte er Opern in verschiedenen Städten. 1696 kamen er und sein Bruder ums Leben während einer Schifffahrt.

Nur wenig Musik von Gaultier de Marseille ist zu uns gekommen. Am wichtigsten sind die neun Suiten, die 1707 von Christoph Ballard in Paris veröffentlicht wurden. Es ist bemerkenswert, dass diese dort erschienen und dazu noch elf Jahre nach seinem Tode. Offensichtlich war er bekannter als man vermuten würde, da er immer weit weg von Paris wirkte. Der Herausgeber schreibt im Vorwort, dass er die Suiten auf Wunsch zusammengestellt hatte. Daraus lässt sich schliessen, dass Gaultiers Musik geschätzt wurde.

Die neun Suiten unterschiedlcher Länge bestehen aus Tänzen und Charakterstücken. Einige erinnern an die Oper der Zeit, und man fragt sich, ob einige dieser Stücke vielleicht aus seinen verschollenen Opern stammen. Auch damals sehr beliebte Formen, wie Chaconne und Passacaille, fehlen nicht. Es gibt auch ein biografisches Stück: zu Les Prisons (das Gefängnis) schreibt er, dass er das Stück im Gefängnis in Avignon komponiert hatte.

Diese Stücke sind, der gedruckten Ausgabe zufolge, für zwei Flöten oder Violinen bestimmt. Hier werden beide gemischt, und angesichts der damaligen Gewohnheiten ist dagegen nichts einzuwenden. Die Frage ist aber, was mit 'Flöte' gemeint ist. Da die Traversflöte meistens als flûte allemande bezeichnet wurde, liegt eine Besetzung mit Blockflöte nahe; so hat Hugo Reyne diese Suiten mit seinem Ensemble La Simphonie du Marais eingespielt (Auvidis, 1998). Aber da ab 1700 die Traversflöte immer beliebter wurde, ist die Besetzung mit Traversflöte, wie in der Aufnahme des Cohaere Ensemble, eine legitime Möglichkeit.

Dieses junge polnische Ensemble legt hier seine erste CD-Aufnahme vor, und die hat mir ganz gut gefallen. Es wird sehr schön gespielt, und der Variation in diesen Suiten wird voll Rechnung getragen. Es wird mal kräftig ausgepackt, aber auch immer wieder mit Verfeinerung gespielt. Jeder Liebhaber von Barockmusik wird an dieser Produktion viel Freude finden.

Pierre Gaultier de Marseille: Symphonies divisées par suites de tons
Cohaere Ensemble
Ambronay AMY317 (© 2025) Details

Freitag, 17. Oktober 2025

Valls: con afecto - BachWerkVokal


Im Verlauf der Geschichte hat es in der Musikwelt mehrere Kontroversen gegeben, die sich oft um 'Fehler' in bestimmten Kompositionen drehten. Ein Beispiel ist die Missa Scala Aretina des spanischen Komponisten Francesc Valls (1671-1747). "Die Polemik, die die Messe auslöste, drehte sich um den Einsatz des zweiten Sopran in einer unvorbereiteten None beim 'Miserere nobis' im Gloria. Gregorio Portero, Kapellmeister an der Kathedrale von Granada, feuerte 1715 die erste Salve ab; im folgenden Jahr schloss sich ihm Joaquín Martínez de la Roca, der Organist in Palencia, an, der argumentierte, dass "Musik aus festgelegten Prinzipien und allgemeinen Regeln besteht; wenn diese gebrochen werden, wird das Wesen der Musik zerstört". Valls verteidigte sich "nicht so sehr für meinen eigenen Ruf, sondern für die Freiheit und Ehre der Musikkunst"", schreibt Craig H. Russell in New Grove. Die Kontroverse hatte auch einen politischen Aspekt, der mit dem spanischen Erbfolgekrieg zusammenhing.

Obwohl dieser Aspekt nach Einschätzung einiger Autoren vielleicht genau so wichtig war wie der musikalische, lässt sich die Aufregung gut verstehen, denn Valls war ganz eigenwillig in seiner Behandlung der Harmonie. Das kommt im Programm, das das Ensemble BachWerkVokal eingespielt hat, ganz klar zum Ausdruck. Die meisten Stücke stammen aus der theoretischen Schrift Mapa armónico, die Valls zwischen den späten 1720er Jahren und 1735 zusammenstellte. Der dritte Kapitel enthält viele Musikstücke, in der Valls zeigt, wie er mit Harmonie experimentierte. Am weitesten geht er in einem Instrumentalwerk: die Composicion enarmónica para instrumentos de arco ist von Anfang bis Ende aus Vierteltönen aufgebaut, und erweckt den Eindruck, im 20. Jahrhundert entstanden zu sein. In vielen Vokalwerken wird ausgiebig Chromatik eingestreut, vor allem mit dem Ziel, den Text möglichst plastisch zum Ausdruck zu bringen und dessen Affekt dem Hörer zu vermitteln. In diesem Sinne ist der Titel dieser Produktion - "con afecto" - gut gewählt.

Auch in der Besetzung ist Valls oft ganz originell. Diese variiert von drei bis zwölf Stimmen. Das ist an sich nicht ungewöhnlich, aber ein Rezitativ und eine Arie für acht Stimmen (Yo que el aplauso) ist doch alles andere als konventionell. Originell ist auch Ay de la pena: es fängt mit einem Duett von Sopran und Tenor an, die dann von einem Quintet verstärkt werden und den ersten Chor bilden. Darauf folgt ein Abschnitt zu acht Stimmen für Chor II und III.

Die eingespielten Werke haben entweder einen lateinischen oder einen spanischen Text, und es gibt sowohl geistliche als weltliche Werke. Die Länge ist ebenfalls unterschiedlich, wie auch die Besetzung. Die meisten Stücke sind für ein Vokalensemble gesetzt; in nur wenigen Werken gibt es Soloparts für Singstimmen. Und während mehrere Werke ohne Begleitung oder nur mit einem Basso continuo auskommem, gibt es auch Stücke mit Geigen, Oboen und Trompeten in verschiedenen Kombinationen.

Die obengenannte Missa Scala Aretina ist fast das einzige Werk aus dem umfangreichen Schaffen von Valls, das einigermassen bekannt ist, wohl auch wegen der Kontroverse, die sie auslöste. Deswegen ist diese Aufnahme von grosser Bedeutung, da sie den eigenwilligen Charakter des Komponisten sowie die Qualität seines Schaffens auf überzeugende Weise zur Schau stellt. Das ganze Programm wird vorzüglich dargestellt. Wie in früheren Aufnahmen beeindruckt das Ensemble mit Energie und Präzision. Dank einer makellosen Intonation kommen die harmonischen Eigenartigkeiten voll zur Geltung. Und die Instrumentalisten tragen wesentlich dazu bei, dass dieses Programm einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Diese CD gehört zweifellos zu den interessantesten und wichtigsten des Jahres 2025.

Francesc Valls: "con afecto"
BachWerkVokal/Gordon Safari
MDG 923 2368-6 (© 2025) Details

Freitag, 3. Oktober 2025

Galuppi: Sonaten und Konzerte für Cembalo - Arianna Radaelli


Nach dem Tod Antonio Vivaldis war Baldassare Galuppi (1706-1785) der wichtigste Komponist in Venedig. Sein Ruf war bald so gross, dass Werke von Vivaldi als Kompositionen von Galuppi angeboten wurden. Er wurde als Cembalist ausgebildet und spielte im Alter von 20 Jahren schon als solcher in Opernaufführungen. Zur gleichen Zeit fing er an, Arien für Opern anderer Komponisten zu schreiben. Für viele Jahre war er vor allem als Opernkomponist tätig, in Venedig, aber für mehrere Jahre auch in Sankt Petersburg. Als er in Venedig zurückkehrte, konzentrierte er sich auf die Komposition von geistlicher Musik.

In seinem Instrumentalschaffen steht Musik für Tasteninstrumente an erster Stelle. Sein Oeuvre an Werken für ein Tasteninstrument, mit und ohne Begleitung, wird auf rund 400 Stück geschätzt. Nur ein ganz kleiner Teil ist heute einigermassen bekannt. Das lässt sich auch daraus erklären, dass der grösste Teil nur in Handschrift erhalten geblieben ist. Nur zwei Sammlungen von je sechs Sonaten sind während seines Lebens in Druck erschienen. Das wundert nicht, denn Klaviermusik wurde damals vor allem improvisiert. Es liegen uns keine Autographe vor, nur Kopien, die von anderen verfertigt wurden. Und die Popularität seiner Musik lässt sich auch daraus ablesen, dass Kopien von Kopien entstanden sind, aber dann oft in anderen Zusammenstellungen. Und so findet man bestimmte Sätze in verschiedenen Sonaten, was Wissenschaftlern und Interpreten vor Probleme stellt, und vielleicht auch erklärt, warum Galuppis Musik so wenig aufgeführt und aufgenommen wird.

Arianna Radaelli hat fünf Sonaten und zwei Konzerte eingespielt. Es fällt auf, wie unterschiedlich die Sonaten sind, sowohl was ihre Struktur als ihr Charakter anbetrifft. Die Zahl der Sätze ist unterschiedlich, und variiert von einem bis drei. Eine Sonate in B-Dur zeigt eine starke Ähnlichkeit mit dem Stile von Carl Philipp Emanuel Bach, insbesondere im Sturm-und-Drang. In anderen Sonaten gibt es improvisatorische Züge, und in einer Sonate wird der moderne galante Stil mit dem 'altmodischen' Kontrapunkt zusammengebracht. In den einsätzigen Sonaten ist der Einfluss Domenico Scarlattis unverkennbar.

Von Galuppi sind sieben Konzerte für Cembalo und Streicher bekannt. Das sind keine Orchesterwerke, sondern eher für Aufführung im intimen Kreis bestimmt, und daher spielt das Ensemble La Filarete sie mit einem Instrument pro Stimme, wie auch Roberto Loreggian, der sämtliche Konzerte für Brilliant Classics aufgenommen hat. Das Konzert in F-Dur steht ganz im galanten Idiom, während das Konzert in C-Moll dem nervösen Stil Carl Philipp Emanuel Bachs ähnelt. Eine Besonderheit ist, dass Galuppi als Streichbass ein Violotto verlangt. Dabei handelt es sich um ein italienisches Instrument mit fünf Saiten der Viola da gamba-Familie, aber grösser als eine Gambe, und mit einem tieferen Klang. Im Textbuch zu Radaellis Aufnahme wird es nicht erwähnt, und die Besetzung mit Violoncello und Violone ist traditionell, im Gegensatz zu Loreggians Aufnahme, wo ein Violotto eingesetzt wird.

Das ist der einzige Kritikpunkt zu dieser Produktion, die eine perfekte Einführung in das Oeuvre für Tasteninstrumente von Galuppi bietet. Arianna Radaelli ist ein überzeugendes Plädoyer für dessen Klaviermusik gelungen. Sie erlaubt sich Freiheiten im Tempo, die ihre Darbietungen umso spannender machen. Wo es passt, spielt sie Verzierungen und fügt sie Kadenzen ein. Das Ensemble La Filarete ist exzellent in den Konzerten.

Es ist zu hoffen, dass die Musik von Galuppi in den kommenden Jahren häufiger zu hören sein wird. Arianna Radaelli hat einen hohen Massstab gesetzt.

Baldassare Galuppi: "Wonder in Venice - Sonatas and concertos for harpsichord"
Arianna Radaelli, Cembalo; La Filarete
Arcana A579 (© 2025) Details

Palestrina 500 - Augsburger Domsingknaben, I Fedeli/Stefan Steinemann

Das Jahr 2025 war Palestrina-Jahr, da man annimmt, dass er 1525 geboren wurde. Wie zu erwarten, erschienen mehrere Aufnahmen mit seiner Mu...