Dienstag, 22. Oktober 2024

Still und lieblich - InAlto (Lambert Colson)



Als die Interpreten alter Musik damit anfingen, alte Instrumente zu spielen, waren es meistens Instrumente die noch immer in Gebrauch waren: Flöte, Oboe, Violine, Violoncello. Der Unterschied lag darin, dass sie entweder Originalinstrumente oder Kopien solcher Instrumente spielten, oder Streichinstrumente, die zu ihrer Originalform zurückrestauriert worden waren. Mit der Zeit wurden auch Instrumente gespielt, die ganz aus dem Musikbetrieb verschwunden waren. Eines dieser war das Zink, auf italienisch cornetto. Bach hat es noch in einigen Kantaten verwendet, aber die Blütezeit des Zink war schon längst vorbei.

Im 16. und 17. Jahrhundert wurde es hoch geschätzt, da es - besser als jedes andere Instrument - in der Lage war, die menschliche Stimme zu imitieren, und die Stimme galt als das wichtigste aller Instrumente. Kein Wunder also, dass das Zink oft in Vokalmusik eingesetzt wurde, als Unterstützung oder Ersatz einer Singstimme. Ein besonderes Zink war das, was als 'stiller Zink' bekannt war, auf italienisch cornetto muto. Michael Praetorius schrieb dazu in seinem Buch Syntagma Musicum: "Cornetto muto aber / do das Mundstück zugleich mit an den Zincken gedrehet ist; vnd diese seynd am Resonantz gar sanfft / still / vnd lieblich zu hören. Darümb sie dann auch stille Zincken genennet werden." Daraus erklärt sich der Titel der vor kurzem erschienenen CD, die Lambert Colson diesem Instrument gewidmet hat.

Diese CD geht aus seiner Doktorarbeit zum stillen Zink hervor, und bringt grösstenteils Musik mit Partien, die speziell für dieses Instrument konzipiert wurden. Es war zweifellos ein wichtiges Instrument am Hofe von Hessen-Kassel im frühen 17. Jahrhundert. Dort regierte damals Moritz 'der Gelehrte', der über eine grosse musikalische Begabung verfügte und der Musik viel Gewicht beimisste. Das Hofinventar von 1613 zeigt, dass der Hof damals nicht weniger als 30 stille Zinken besass. Diese CD bringt fast alle Musik, die am Hofe komponiert wurde, und Partien für einen stillen Zink enthalten.

Das Programm eröffnet und schliesst mit mehrchörigen Werken von Giovanni Gabrieli bzw. Michael Praetorius. Ersteres hat Heinrich Schütz möglicherweise mitgenommen, als er aus Venedig zurückkehrte. Auch selbst ist er mit einem Werk vertreten, der Motette Siehe, wie fein und lieblich ist's, die er für die Hochzeit seines Bruders komponierte. Angesichts des Titels wundert es nicht, dass die höchste Instrumentalstimme dem stillen Zink anvertraut ist. Interessant ist, dass auch der erste Lehrer von Schütz - sowie der Lehrer von Moritz - vertreten ist: Georg Otto war von 1586 bis zu seinem Tode 1618 Kapellmeister am Hofe zu Kassel. Nicht alle Stücke sind direkt mit Kassel in Verbindung zu bringen: es gibt auch Werke von Orlandus Lassus und Thomas Selle. Aber alle Werke zeigen, wie der stille Zink damals funktioniert hat oder hätte verwendet werden können.

Diese CD ist hochinteressant, und es lohnt sich, im Textheft die Erläuterungen von Lambert Colson zu lesen, die darin das Ergebnis seiner Untersuchungen zusammenfasst. Die Interpretationen sind in jeder Hinsicht gelungen. Colson hat ein hervorragendes Ensemble von Sänger*innen und Instrumentalist*innen zusammengebracht, die das ausgewählte Repertoire glänzend zur Aufführung bringen. Diese CD ist ein schönes Monument für ein liebliches Instrument.

"Still und lieblich"
InAlto/Lambert Colson
Ricercar RIC 464 (© 2024) details

Freitag, 18. Oktober 2024

Subissati: Sonaten für Violine und Basso continuo - Joanna Morska-Osińska



Im späten 16. und im 17. Jahrhundert wirkten mehrere italienische Musiker und Komponisten in Polen, meistens am Hofe. Einer dieser war der weitgehend unbekannte Aldebrando Subissati (1606-1677). Er wurde in Fossombrone geboren und empfing seine musikalische Erziehung, insbesondere im Geigenspiel, von seinem Onkel in Rom. In den 1630er und 40er Jahren war er Mitglied des Ensembles der Kirche San Luigi dei Francesi. Danach wirkte er in Passau, Olomouc und Wien, und ging dann nach Warschau. Dort war er auf jeden Fall im Jahre 1650; vier Jahre später kehrte er nach Fossombrone zurück. Dort war er aktiv als Lehrer und nahm wahrscheinlich an Aufführungen von Oratorien und Opern teil.

Wieviel Musik Subissati komponiert hat, ist nicht bekannt. Lediglich eine Sammlung von zwanzig Sonaten für Violine und Basso continuo hat sich erhalten. Sie sind nicht gedruckt worden; die Handschrift weist Korrekturen auf, und einige Sonaten sind nicht ganz komplett. Es ist zu vermuten, dass Subissati diese Sammlung als musikalisches Vermächtnis gemeint hat. Er hat sie wahrscheinlich in den Jahren 1675/76, also kurz vor seinem Tode, zusammengestellt. Allerdings sind sie wohl viel früher, zwischen 1630 und 1660, entstanden.

Es sind Beispiele des sogenannten stylus phantasticus, der um 1600 in Italien entstanden ist. In solchen Sonaten wechseln sich Abschnitte kontrastierenden Tempos und Metrums ohne Unterbrechungen ab. Diese Sonaten zeugen von den grossen Qualitäten des Komponisten. Sie sind technisch virtuos, und enthalten viele Merkmale, die damals gängig waren, wie Chromatik, schelle Wiederholungen einzelner Noten, die Ausschöpfung hoher Positionen und perkussionistische Effekte. Dann und wann gibt es schon ziemlich dramatische Abschnitte. Oft erinnerten diese Werke mich an die Rosenkranz-Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber.

Mehrere Sonaten tragen lateinische Titel. Diese verweisen auf Motetten von Giovanni Francesco Anerio (um 1567-1630), der von 1624 bis 1628 ebenfalls am polnischen Hofe wirkte. Subissati hat den Basso-continuo-Part dieser Motetten zur Grundlage seiner Sonaten genommen, aber nicht buchstäblich, sondern diminuiert. Wenn man diese Sonaten hört, fragt man sich, ob er vielleicht auch den Inhalt dieser Motetten in seine Kompositionen einbezogen hat. Es wäre interessant, das mal zu untersuchen.

Joanna Morska-Osińska hat mit dieser Aufnahme eine wichtige Tat vollbracht. Diese grossartigen Sonaten sind es durchaus wert, auf CD aufgenommen zu werden, und ich kann mir keine bessere Interpretation vorstellen, als hier vorgelegt wird. Technisch und musikalisch gehören diese Aufführungen zur Spitzenklasse. Die Darstellung des Basso continuo ist ebenfalls eindrucksvoll, mit einer gelungenen Kombination verschiedener Instrumente: Viola da gamba, Theorbe, Cembalo und Orgel.

Für mich ist diese Produktion eine der Aufnahmen des Jahres.

Subissati: Sonate per violino e basso continuo
Joanna Morska-Osińska, Violine; Paweł Zalewski, Viola da gamba; Marek Toporowski, Cembalo; Michał Sawicki, Orgel
Dux 1959/1960 (© 2024) details

Montag, 14. Oktober 2024

Pössinger: Duette für Violine und Viola op. 4 - Katja Grüttner, Christian Goosses



Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts gab es einen wachsenden Bedarf an Musik, die von Laien im häuslichen Kreis gespielt werden konnte. Georg Philipp Telemann war einer, der solche Musik in grossen Mengen veröffentlichte. Mit der Zeit breitete sich das häusliche Musizieren auf die mittleren Schichten der Gesellschaft aus. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden bestimmte Gattungen besonders beliebt, wie Quartette für Traversflöte und Streicher. Auch andere Gattungen kamen in Mode, wie Trios und Duette in verschiedenster Besetzung. Die bei Musicaphon erschienene CD, die hier rezensiert wird, bietet drei Werke für Violine und Viola. Die grossen Komponisten der Klassik, Mozart und Haydn, haben zu dieser Gattung beigetragen, aber es sind vor allem weniger bekannte Meister, die solche Werke komponiert haben. Ignaz Pleyel und Alessandro Rolla sollten hier insbesondere erwähnt werden.

Diese beiden sind relativ bekannt, obwohl ihre Werke nicht oft gespielt werden. Franz Alexander Pössinger (1766-1827) dagegen ist ein fast ganz vergessener Komponist. In der englischen Musikenzyklopädie New Grove wird er gar nicht erwähnt; Musik in Geschichte und Gegenwart widmet ihm zumindest einen kurzen Artikel. Er machte vor allem Namen mit Bearbeitungen von Vokalwerken, wie Opern von Mozart, Beethoven, Weber und Rossini. Er transkribierte auch Beethovens Sinfonien für Streichquartett. Aber auch seine eigenen Kompositionen wurden durchaus geschätzt. Der grösste Teil seines Oeuvres besteht aus Kammermusik für verschiedene Besetzungen, wie Streichtrios, -quartette und - quintette, sowie Stücke für Flöte, Violine und Viola und eben die drei Streichduos op. 4. Die ersten zwei bestehen aus drei Sätzen, das dritte aus zwei.

Im Textheft werden sie mit dem Stil in Verbindung gebracht, der als Biedermeier bekannt ist. Das scheint mir nicht richtig, denn formal handelt es sich dabei um Musik aus der Zeit zwischen 1815 (dem Wiener Kongress) und 1848 (das Jahr der Revolutionen). Pössingers Duos wurden aber schon 1802 veröffentlicht. Der Stil des Biedermeier wird - manchmal zu Unrecht, aber manchmal auch mit Recht - als einfach und etwas oberflächlich betrachtet. Pössingers Duos sind deutlich besser, und oberflächlich bestimmt nicht. Darüber hinaus sind sie technisch ziemlich anspruchsvoll, beispielsweise durch grosse Sprünge. Es ist zweifelhaft, ob sie von durchschnittlichen Laien gespielt werden konnten.

Sylvie Kraus hat die beiden Interpreten auf diese Duos aufmerksam gemacht, und das ist ein reiner Glücksfall. Diese Stücke sind sehr schön und unterhaltsam und haben es verdient, auf CD veröffentlicht zu werden. Darüber hinaus sind Katja Grüttner und Christian Goosses die idealen Interpreten. Beide haben viel Erfahrung in der Aufführung von Musik aus Barock und Klassik auf Instrumenten der Zeit, und das zahlt sich hier aus. Es gibt eine perfekte Balance zwischen den beiden Instrumenten, und die Tempi und die Dynamik sind wohl durchdacht, und in jeder Hinsicht überzeugend. Schade nur, dass die Spieldauer (41 Minuten) so kurz ist. Ich hätte gerne noch etwas mehr gehört. Es sollte aber die an solchen Werken Interessierten nicht davon abhalten, sich diese CD zu ergattern.

Pössinger: "Three Duos for Violin and Viola"
Katja Güttner, Violine; Christian Goosses, Viola
Musicaphon M56996 (© 2023) details

Donnerstag, 1. August 2024

Bach: Fragmente - Lorenzo Ghielmi



Für Interpreten und Musikliebhaber ist es besonders schmerzlich, wenn Musik eines grossen Komponisten unvollendet oder bruchstückhaft zu uns gekommen sind. Das hat verschiedene Gründe: Teile einer Handschrift sind verloren gegangen, oder der Komponist hat das Stück halbwegs liegengelassen und es nie vollendet, aus welchem Grund auch immer. Das ist auch bei Johann Sebastian Bach der Fall. Einige Orgelwerke sind nicht komplett überliefert, und werden deswegen fast nie gespielt und aufgenommen. Eine Ausnahme ist der Contrapunctus 14 aus der Kunst der Fuge, die in Aufnahmen entweder in einer rekonstruierten Fassung gespielt wird, oder aber wie er zu uns gekommen ist: abgebrochen, da der Komponist während der Arbeit verstarb. Dann wird das Stück als eine Art Gedenkstein gehandelt.

Der italienische Organist Lorenzo Ghielmi hat es in einer eigenen Erweiterung aufgenommen, neben allen unvollständig überlieferten Orgelwerken. Zwei Stücke stammen aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach: die Fantasie in C-Dur bricht im 13. Takt ab; Ghielmi hat sich bei der Erweiternung vom Stile Vivaldis, von dem Bach stark beeinflusst wurde, inspirieren lassen. Das zweite Stück ist die Air (BWV 991), die wohl nicht als Orgelwerk gemeint war; in seinem Buch über Bachs Orgelmusik diskutiert Peter Williams sie nicht. Ghielmi behandelt es als einen Zyklus von drei Variationen.

Wo die meisten unvollständig erhaltenen Werke aus verständlichen Gründen in Aufnahmen nicht berücksichtigt werden, ist das anders bei der Fantasie in c-Moll (BWV 562). Allerdings ist die Fantasie nur ein Teil dieses Werkes. Dazu gehört eine Fuge, von der aber nur die erste Seite erhalten ist. Experte nehmen an, dass ursprünglich eine Doppelfuge geplant war. Ghielmi schreibt: "Es gab jedoch kein zweites Thema, das sich für eine echte Kombination im doppelten Kontrapunkt geeignet hätte: In meiner Ergänzung entschied ich mich daher für eine einfache Fuge mit einer Reihe von Abschnitten in unterschiedlichen Tonarten, wobei ich versuchte, die kombinatorischen Möglichkeiten des Themas immer weiter auszuloten." Das scheint mir typisch für seine Behandlung des Materials: er gibt sich bescheiden, wohl wissend, dass kein Organist jemals an das Niveau des Komponisten heranreichen könnte.

Weiter gibt es noch einige Choralpräludien und -bearbeitungen, die unvollständig überliefert sind. Die CD schliesst mit der Fantasie und Fuge in c-Moll (BWV 537), die in einer Kopie von Johann Tobias Krebs und dessen Sohn Johann Ludwig erhalten ist. Der Schluss wird oft kritisch betrachtet, und es wird behauptet, er könnte vom jüngeren Krebs stammen. Wohl deswegen hat Ghielmi es hier einbezogen, aber ob diese Theorie stimmt, ist fraglich.

Und dann gibt es noch die Sonate in g-Moll (BWV 1001) für Violine solo. Das Werk ist komplett, aber Bach hat nur die Fuge für Orgel bearbeitet, in einer Transposition nach g-Moll. Ghielmi hat die übrigen Sätze nach dem Vorbild von Bach für Orgel eingerichtet, und das scheint mir eine wertvolle Erweiterung des Repertoires.

Das kann von dieser Aufnahme generell gesagt werden. Ich weiss nicht, ob Ghielmi eine Druckausgabe geplant hat; schön wäre es, denn diese Fassungen scheinen mir eine interessante und wertvolle Erweiterung des Orgelschaffens von Bach. Selbstverständlich sind es nur Vorschläge: andere mögen zu anderen Lösungen kommen. Aber Ghielmis Fassungen könnten Kollegen anspornen, es auch mal zu versuchen. Ghielmi verteidigt seine Fassungen mit viel Überzeugungskraft. Er spielt sie schön auf einem geeigneten Instrument, der 2009 erbauten Orgel der Firma Reil zu Heerde (Niederlande) in der Stadtpfarrkirche St. Nikolaus zu Rosenheim, mit drei Manualen und Pedal.

JS Bach: "Fragments"
Lorenzo Ghielmi, Orgel
Passacaille PAS 1140 (© 2023) details

Freitag, 19. Juli 2024

Santa Maria: Missa O beata Maria - Arte Minima



Lange Zeit stammte die alte Musik, die in Konzerten dargestellt und auf Tonträger aufgenommen wurde, aus dem Herzland Europas. Was in Gebieten komponiert wurde, die man als Peripherie bezeichnen könnte, wurde kaum beachtet. Mit der Verbreitung der historischen Aufführungspraxis hat sich das geändert. Es sind in erster Linie Musiker aus einem Land oder einer Region, die sich um ihr eigenes musikalisches Erbe kümmern. In den letzten Jahrzehnten sind viele Aufnahmen mit Musik aus Polen auf den Markt gekommen, und dann und wann kommen auch andere Teile Europas, wie Irland, der Balkan und Malta musikalisch zu Wort. Die jetzt vorliegende CD bringt uns nach Portugal - auch einem Land, dessen Musik lange Zeit in einem Dornröschenschlaf versunken war.

Wo die spanische Musik der Renaissance, und heute in zunehmendem Masse auch des Barock und der Klassik, oft zu hören ist, hat die portugiesische Musik es schwerer, sich durchzusetzen. Dabei muss immer bedacht werden, dass das musikalische Erbe des Landes nur bruchstückhaft überliefert worden ist. Das Erdbeben, dass 1755 Lissabon heimsuchte, hat die sämtliche Musiksammlung des königlichen Palastes vernichtet. Viele Werke des 16. und 17. Jahrhunderts wurden nur dort aufbewahrt, und sind deswegen für immer verloren. Man darf von Glück reden, dass noch das Eine oder Andere erhalten geblieben ist.

Francisco de Santa Maria (1532/38-1597) ist strikt genommen vielleicht kein Portugiese, sondern Spanier, denn er wurde in Ciudad Rodrigo in Spanien, dicht an der portugiesischen Grenze, geboren. Er wirkte als Sänger in der dortigen Kathedrale, liess sich kurz nach 1553 aber in Portugal nieder, wo er als Kapellmeister in Guarda und Coimbra tätig war, und schliesslich am Augustinerkloster zu Santa Cruz. Neben Musik für das Theater komponierte er geistliche Musik. Wieviel seines Schaffens überliefert ist, lässt sich schwer feststellen. Mehrere Werke, die in anonymen Kopien vorliegen, könnten von ihm komponiert worden sein. Auf jeden Fall stammen die Missa O beata Maria und einige Lamentationen von ihm.

Die Messe basiert auf Material aus einer Motette von Pedro Guerrera, dem älteren Bruder von Francisco Guerrera, einem der Grössen des spanischen Goldenen Zeitalters. Diese Motette besteht aus zwei Teilen; Santa Maria verarbeitet Material aus beiden Teilen. Die Messe ist vierstimmig und wird hier in solistischer Besetzung dargeboten. Leider enthält das Textheft keine Erläuterung der Aufführungspraxis. Ich hätte gerne gewusst, ob diese Besetzung den damaligen Aufführungsgewohnheiten entspricht. Auch würde ich gerne wisse, warum die Singstimmen von Blockflöten unterstützt werden. In geistlicher Musik hört man meistens laute Blasinstrumente. Merkwürdig ist, dass zwischen Kyrie und Gloria, die in der Messe immer ohne Unterbrechung gesungen werden, ein Instrumentalstück eingefügt wird.

Das ist aber eine Kleinigkeit. Diese Messe ist es durchaus wert, auf CD festgelegt zu werden, und das Ensemble Arte Minima, das ich nicht kannte, macht einen hervorragenden Eindruck. Der Gesamtklang ist sehr gut und schön, die Stimmen mischen sich perfekt, und die Balance zwischen Singstimmen und Blockflöten ist wie sie sein sollte. Liebhaber der Polyphonie der Renaissance sollten diese CD nicht missen.

Santa Maria: Missa O beata Maria
Arte Minima/Pedro Sousa Silva
Pan Classics PC 10452 (© 2023) details

Montag, 8. Juli 2024

Tartini: Violinsonaten ohne Begleitung - Lavinia Soncini



Giuseppe Tartini war einer der grössten Geiger seiner Zeit. Man könnte ihn als Nachfolger von Antonio Vivaldi betrachten. Allerdings waren sie grundverschieden. Tartini war ein Vertreter eines neuen Stils, der auf Natürlichkeit setzte und Virtuosität als ein Ziel an sich ablehnte. Tartini liess sich beim Komponieren von Poesie leiten. Ein Kommentator schreibt: "Sein Ziel war es, im Violinspiel den perfekten, natürlichen Klang der singenden menschlichen Stimme wiederzuentdecken. Es war eine ethische Position."

Tartini ist vor allem wegen seiner Violinkonzerte bekannt, und natürlich wegen der sogenannten 'Teufelstriller-Sonate', die schon im 19. Jahrhundert von grossen Geigern auf Konzerten gespielt wurde, selbstverständlich mit Klavierbegleitung. Tartini komponierte aber auch Sonaten für Violine ohne Begleitung, die in Handschrift überliefert sind unter dem Titel 26 Piccole Sonate, und die er für den eigenen Gebrauch komponierte. Er fügte aus Gewohnheit eine Bassstimme hinzu, bevorzugte aber eine Aufführung ohne Begleitung. In diesen Stücken kommt man den Geist und die Seele des Komponisten am Nächsten.

Eine Besonderheit ist, dass drei Sonaten der hier rezensierten Einspielung einen kurzen Satz enthalten, der mit aria del Tasso bezeichnet ist. Das bezieht sich auf eine Melodie, die venezianische Gondolieri zu den achtzeiligen Strophen von Torquato Tassos Gerusalemme liberata sangen. Tasso war einer der Dichter, die Tartini bewunderte, aber die Einbeziehung eines Gondoliere-Liedes sagt viel über seine Ansichten zur Natürlichkeit aus. Wie ein Autor schrieb: "Für Tartini, der der sogenannten musica naturalis der alten Griechen und der 'Musik der Nationen' folgte, ist der Begriff popolare gleichbedeutend mit 'einfach', und 'Einfachheit' ist das Hauptmerkmal der Natur. In seinen Schriften erscheint der Begriff der Natur häufig im Gegensatz zu artificioso, d. h. künstlich und unspontan." Aus dieser Perspektive kommen Tartinis Ansichten zur Natürlichkeit, die in seinem musikalischen Denken eine zentrale Rolle spielen, in diesen Sonaten perfekt zum Tragen.

In der Sonata XII gibt es dann noch einen Satz mit dem Titel Canzone veneziane. In der Sonata XVII ist der vierte Satz ein furlana (Forlana), "ein lebhafter norditalienischer Volkstanz, der besonders mit Venedig in Verbindung gebracht wird (...). Es handelte sich um einen energischen Balztanz aus der italienischen Provinz Friaul, einer slawischen Region unter der Kontrolle der Republik Venedig, und könnte daher seine Wurzeln in slawischen Tänzen haben" (New Grove). Dass Tartini eben diesen Tanz in seine Sonate einbezieht, könnte durchaus daraus zu erklären sein, dass er in Istrien geboren wurde, das heute zu Slowenien gehört.

Auch ohne diese Hintergründe lassen sich diese Sonaten genießen. Sie sind oft virtuos; Tartini verwendet häufig Doppelgriffe, wechselt schnell vom tiefen zum hohen Register und schreibt viele brillante Läufe. Es ist großartige Musik, sowohl technisch als auch im Bereich des Ausdrucks. Der Interpret ist auf sich allein gestellt und muss diese Sonaten gründlich analysieren, um ihnen gerecht zu werden. Das hat Lavinia Soncini offensichtlich gemacht. Technisch sind ihre Darbietungen beeindruckend, aber was diese Aufnahme besonders bewundernswert macht, ist die Ausdruckskraft ihrer Interpretation. Dies ist zweifellos eine der besten Aufnahmen barocker Violinmusik, die in letzter Zeit erschienen sind

Tartini: "Lieto ti prendo e poi"
Lavinia Soncini, Violine
Da Vinci Classics C00884 (© 2024) details

Montag, 24. Juni 2024

Berliner Cembalokonzerte - Philippe Grisvard



Johann Sebastian Bach war wohl der erste Komponist, der das Cembalo als Soloinstrument im Orchester verwendete. Das fünfte Brandenburgische Konzert war der erste Versuch in diese Richtung, und später bearbeitete er Konzerte in verschiedener Besetzung für Cembalo und Streicher. Seine Söhne folgten ihm: Carl Philipp Emanuel war der fruchtbarste Komponist solcher Konzerte, die er selbst aufführte, wahrscheinlich vor allem bei den Konzerten der Freitagsakademie in Berlin, gegründet von Johann Gottlieb Janitsch. Auch andere Komponisten haben solche Werke geschrieben. Philippe Grisvard und das Ensemble Diderot haben vier Konzerte für Cembalo und Streicher von Berliner Komponisten aufgenommen. Das heisst: der letzte Komponist im Programm, Ernst Wilhelm Wolf, wirkte nie in Berlin, aber stilistisch gehört er sicherlich zu den 'Berlinern'.

Der bekannteste der vier Komponisten ist zweifellos Carl Heinrich Graun. Es steht nicht hundertprozentig fest, dass das Konzert in D-Dur von ihm und nicht von seinem Bruder Johann Gottlieb stammt, aber da dieser sonst keine Cembalokonzerte komponiert hat und Geiger war, wird angenommen, dass Carl Heinrich der Komponist ist. Es ist im galanten Stil komponiert: im Cembalopart liegt das thematische Material in der rechten Hand, während die linke Hand sich auf eine Begleitfunktion beschränkt. Ausdruck gibt es vor allem im langsamen Satz.

Christoph Schaffrath war Cembalist am Hofe Friedrichs des Grossen, neben Carl Philipp Emanuel Bach. 1741 trat er in den Dienst der Schwester Friedrichs, Anna Amalia. Ihr Geschmack war eher konservativ, und Schaffrath, der wegen seiner Beherrschung des Kontrapunkts auffiel, passte genau dazu. Der erste Satz seines Konzerts in c-moll eröffnet fugatisch. Interessant ist, dass der langsame Satz mit Verzierungen des Komponisten versehen ist, die Grisvard hier auch spielt.

Christoph Nichelmann wurde 1745 als Cembalist am Hofe Friedrichs des Grossen angestellt. Zu Carl Philipp Emanuel Bach hatte er ein problematisches Verhältnis, und im Jahre 1755 nahm er den Hut. Trotzdem ist sein Konzert in d-moll stark von Bach beeinflusst. Der Cembalopart wird immer wieder plötzlich von Einbrüchen der Streicher, die forte gespielt werden, unterbrochen - ein klares Merkmal des Sturm und Drang.

Das Programm schliesst mit dem Konzert in B-Dur von Ernst Wilhelm Wolf, der von 1761 bis zu seinem Tode 1792 im Dienste des Hofes zu Weimar war. Es ist eines von um die 25 Cembalokonzerten, die er komponiert hat; die Mehrzahl ist leider verloren gegangen. Auch hier ist der Einfluss von CPE Bach unverkennbar, aber dann vor allem von dessen späteren Konzerten, die schon in die Richtung des klassischen Stils weisen.

Alle vier Konzerte erscheinen hier zum ersten Mal auf CD, und schon deswegen ist diese Produktion von grosser Bedeutung. Diese Konzerte zeugen von der hohen Qualität des Repertoires, das zur Zeit Friedrichs des Grossen an seinem Hof und in dessen Umfeld gespielt wurde. Die Wahl eines Cembalos scheint mir richtig; das Fortepiano hatte sich zur Zeit noch nicht wirklich durchgesetzt. Auch die Besetzung mit einem Instrument pro Stimme mag wohl den damaligen Aufführungsgewohnheiten entsprechen. Grisvard ist ein exzellenter Interpret, der genau den richtigen Ton trifft. Er nimmt im Bereich der Verzierungen das richtige Ausmass an Freiheiten, ohne je zu übertreiben. Auch der Ausdruck in den langsamen Sätzen kommt nicht zu kurz. Das Ensemble Diderot steht ihm in gewohnter brillianter Weise bei. Kurzum: eine Spitzenproduktion.

"Berlin Harpsichord Concertos"
Philippe Grisvard, Cembalo; Ensemble Diderot
Audax ADX11211 (© 2024) details

Still und lieblich - InAlto (Lambert Colson)

Als die Interpreten alter Musik damit anfingen, alte Instrumente zu spielen, waren es meistens Instrumente die noch immer in Gebrauch ware...