Donnerstag, 8. Juni 2023

Hildegard von Bingen: Sacred Chants - Grace Davidson



Ein Grossteil der Musik des Mittelalters ist anonym überliefert. Vor allem im Bereich der geistlichen Musik galt die Identität des Komponisten als unwichtig. Und wenn wir den Komponisten kennen, wissen wir oft sehr wenig über ihn. Umso bemerkenswerter ist es, dass eine Frau aus dieser Zeit zu den bekanntesten Komponisten der Musikgeschichte gehört: Hildegard von Bingen. Über sie sind wir auch relativ gut informiert, denn sie war eine bemerkenswerte und selbständige Persönlichkeit, die mit wichtigen Leuten der Kirche und mit Wissenschaftlern ihrer Zeit korrespondierte. Sie hat auch ein relativ umfangreiches Bestand an Musik hinterlassen: 77 Gesänge, meistens auf eigenen Texten, und eine Moralität, Ordo Virtutum.

Dieses Repertoire wird seit den frühen Jahren der Wiederbelebung der alten Musik häufig aufgeführt. Die Interpretationen sind sehr verschieden. Das hat zum Teil damit zu tun, dass wir über die Art und Weise, wie Hildegard in ihrem Kloster diese Stücke aufführte, nicht informiert sind. Da es sich um ein Frauenkloster handelte, liegt eine Aufführung mit Frauenstimmen auf der Hand. Aber wieviele? Diese Stücke sind einstimmig überliefert, was eine Darbietung mit mehreren Stimmen, die unisono singen, nicht ausschliesst. Das ist heute die Regel. Oft werden auch Instrumente eingesetzt, die eine (improvisierte) Begleitung spielen. In Klöstern wurden durchaus Instrumente gespielt und Hildegard selbst spielte Hackbrett. Wenn damals tatsächlich Instrumente gespielt wurden, spielten sie dann colla voce, oder eine Gegenmelodie? Wir wissen es nicht.

Die britische Sopranistin Grace Davidson hatte den kühnen Plan, Gesänge von Hildegard ohne jegliche Instrumentalbegleitung aufzunehmen. Angesichts der hohen technischen Anforderungen dieser Werke, vor allem im Bereich der Tessitur, war das ein ziemliches Wagestück. Das Ergebnis ist aber höchst eindrucksvoll. Hier hört man neun Gesänge so, wie sie von Hildegard aufgeschrieben wurden. Der Text kommt auf diese Weise optimal zur Geltung. Mit den technischen Anforderungen hat Frau Davidson überhaupt keine Probleme. Man braucht keine Langeweile zu fürchten; dafür sind diese Gesänge zu gut und zu schön, und die Kunst der Hildegard von Bingen kommt in der Differenzierung der Vertonungen der verschiedenen Texte gut zum Tragen. Grace Davidson hat mit dieser Aufnahme ein wichtiger Beitrag zur Interpretation dieser Musik geleistet und deswegen ist diese Produktion eine Erweiterung der Diskographie, deren Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Hildegard von Bingen: "Sacred Chants"
Grace Davidson, Sopran
Signum Classics SIGCD717 (© 2022) details

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