Donnerstag, 19. Oktober 2023

Sonaten für Violoncello piccolo - Octavie Dostaler-Lalonde



Wenn ich behaupte, die Geschichte des Violoncellos sei einigermassen kompliziert, muss das als eine grosse Untertreibung gelten. Im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde ein bestimmtes Instrument mit verschiedenen Namen versehen, und ein Name konnte für verschiedene Instrumente verwendet werden. Es ist ein schwieriges Unterfangen, festzustellen, um genau welches Instrument es in einem gegebenen Fall handeln könnte. Zu den Instrumenten, die Rätsel aufgeben, gehört das Violoncello piccolo.

Heutzutage wird die sechste Suite für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach meistens auf so einem Instrument gespielt, obwohl es nicht namentlich erwähnt wird. Es wird nur ein Instrument à cinque cordes (mit fünf Saiten) verlangt. In mehreren seiner Kantaten hat Bach dagegen eine obligate Partie eingefügt, die ein Cello piccolo verlangt. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um ein Instrument mit vier Saiten. Daher meint Marc Vanscheeuwijck, einer der wichtigsten Experten auf dem Gebiet des historischen Violoncellos, das Violoncello piccolo konnte entweder vier- oder fünfsaitig sein. Und als wäre die Sache noch nicht verzwickt genug gibt es einen Katalog des Verlags Breitkopf des Jahres 1762, in dem sich 41 Werke finden, die für Violoncello picco oder Violoncello da braccio bestimmt sind. Das erweckt den Eindruck, dass das Violoncello piccolo auf der Schulter gespielt wurde, wie das Violoncello da spalla.

Die kanadische Cellistin Octavie Dostaler-Lalonde kam vor einigen Jahren in den Besitz eines Violoncellos mit vier Saiten, etwas kleiner als das übliche Barockvioloncello. Sie stimmte es wie früher ein Cello piccolo gestimmt wurde (G-d-e-a'). "Das Ergebnis war beeindruckend: der Klang des Instruments wurde hell, kristallklar und farbenreich, mit einer verbesserten Gesangsqualität auf der obersten Saite, jetzt eine Quinte höher als das Standard 'a'." Sie machte sich dann auf der Suche nach Repertoire, dessen Tessitur zu ihrem Instrument passte. Das resultierte in eine CD mit Sonaten für Violoncello und Basso continuo oder ein obligates Tasteninstrument. Vier der sechs eingespielten Werke erscheinen zum ersten Mal auf CD, von Christoph Schaffrath, Franz Benda, Georg Czarth und Joseph Benedikt Zyka. Wie man sieht, sind auf jeden Fall zwei dieser Komponisten nicht oder kaum bekannt. Dazu kommt noch eine Sonate von Anton Filtz, sowie eine von Johann Christoph Friedrich Bach. Im letzten Fall haben die Interpreten das Werk rekonstruieren müssen. Es gibt nur eine Fassung aus dem 19. Jahrhundert, da das Original im zweiten Weltkrieg verloren gegangen ist.

Man wird verstehen, dass es sich hier um eine Produktion handelt, die historisch besonders interessant und aufschlussreich ist. Sie könnte einen Ansatz zu weiteren Untersuchungen zur Verwendung des Violoncello piccolo sein und somit unser Bild der Literatur für dieses Instrument erweitern und verfeinern. Aber auch musikalisch haben wir es hier mit einer Spitzenproduktion zu tun. Dass es vier Ersteinspielungen gibt, ist schon erfreulich, und dazu kommt, dass alle sechs Stücke musikalisch von Bedeutung sind. Octavie Dostaler-Lalonde ist eine hervorragende Musikerin, die einen schönen Ton hervorbringt und eine sprechende und dynamisch differenzierte Interpretation vorlegt. In einer Sonate wird der Basso continuo nur von einem Violoncello dargestellt, auf kreative Weise herausgearbeitet von Victor García García. Und dann gibt es noch Artem Belogurov, der eine Kopie eines Fortepianos von Andreas Stein des Jahres 1783 spielt, und den Basso continuo bzw. die Obligatpartien vorzüglich realisiert. Diese CD ist eine der besten dieses Jahres.

"From Mannheim to Berlin - Sonatas for cello piccolo"
Octavie Dostaler-Lalonde, Violoncello piccolo; Victor García García, Violoncello; Artem Belogurov, Fortepiano
Challenge Classics CC72961 (© 2023) details

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