Donnerstag, 1. August 2024
Bach: Fragmente - Lorenzo Ghielmi
Für Interpreten und Musikliebhaber ist es besonders schmerzlich, wenn Musik eines grossen Komponisten unvollendet oder bruchstückhaft zu uns gekommen sind. Das hat verschiedene Gründe: Teile einer Handschrift sind verloren gegangen, oder der Komponist hat das Stück halbwegs liegengelassen und es nie vollendet, aus welchem Grund auch immer. Das ist auch bei Johann Sebastian Bach der Fall. Einige Orgelwerke sind nicht komplett überliefert, und werden deswegen fast nie gespielt und aufgenommen. Eine Ausnahme ist der Contrapunctus 14 aus der Kunst der Fuge, die in Aufnahmen entweder in einer rekonstruierten Fassung gespielt wird, oder aber wie er zu uns gekommen ist: abgebrochen, da der Komponist während der Arbeit verstarb. Dann wird das Stück als eine Art Gedenkstein gehandelt.
Der italienische Organist Lorenzo Ghielmi hat es in einer eigenen Erweiterung aufgenommen, neben allen unvollständig überlieferten Orgelwerken. Zwei Stücke stammen aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach: die Fantasie in C-Dur bricht im 13. Takt ab; Ghielmi hat sich bei der Erweiternung vom Stile Vivaldis, von dem Bach stark beeinflusst wurde, inspirieren lassen. Das zweite Stück ist die Air (BWV 991), die wohl nicht als Orgelwerk gemeint war; in seinem Buch über Bachs Orgelmusik diskutiert Peter Williams sie nicht. Ghielmi behandelt es als einen Zyklus von drei Variationen.
Wo die meisten unvollständig erhaltenen Werke aus verständlichen Gründen in Aufnahmen nicht berücksichtigt werden, ist das anders bei der Fantasie in c-Moll (BWV 562). Allerdings ist die Fantasie nur ein Teil dieses Werkes. Dazu gehört eine Fuge, von der aber nur die erste Seite erhalten ist. Experte nehmen an, dass ursprünglich eine Doppelfuge geplant war. Ghielmi schreibt: "Es gab jedoch kein zweites Thema, das sich für eine echte Kombination im doppelten Kontrapunkt geeignet hätte: In meiner Ergänzung entschied ich mich daher für eine einfache Fuge mit einer Reihe von Abschnitten in unterschiedlichen Tonarten, wobei ich versuchte, die kombinatorischen Möglichkeiten des Themas immer weiter auszuloten." Das scheint mir typisch für seine Behandlung des Materials: er gibt sich bescheiden, wohl wissend, dass kein Organist jemals an das Niveau des Komponisten heranreichen könnte.
Weiter gibt es noch einige Choralpräludien und -bearbeitungen, die unvollständig überliefert sind. Die CD schliesst mit der Fantasie und Fuge in c-Moll (BWV 537), die in einer Kopie von Johann Tobias Krebs und dessen Sohn Johann Ludwig erhalten ist. Der Schluss wird oft kritisch betrachtet, und es wird behauptet, er könnte vom jüngeren Krebs stammen. Wohl deswegen hat Ghielmi es hier einbezogen, aber ob diese Theorie stimmt, ist fraglich.
Und dann gibt es noch die Sonate in g-Moll (BWV 1001) für Violine solo. Das Werk ist komplett, aber Bach hat nur die Fuge für Orgel bearbeitet, in einer Transposition nach g-Moll. Ghielmi hat die übrigen Sätze nach dem Vorbild von Bach für Orgel eingerichtet, und das scheint mir eine wertvolle Erweiterung des Repertoires.
Das kann von dieser Aufnahme generell gesagt werden. Ich weiss nicht, ob Ghielmi eine Druckausgabe geplant hat; schön wäre es, denn diese Fassungen scheinen mir eine interessante und wertvolle Erweiterung des Orgelschaffens von Bach. Selbstverständlich sind es nur Vorschläge: andere mögen zu anderen Lösungen kommen. Aber Ghielmis Fassungen könnten Kollegen anspornen, es auch mal zu versuchen. Ghielmi verteidigt seine Fassungen mit viel Überzeugungskraft. Er spielt sie schön auf einem geeigneten Instrument, der 2009 erbauten Orgel der Firma Reil zu Heerde (Niederlande) in der Stadtpfarrkirche St. Nikolaus zu Rosenheim, mit drei Manualen und Pedal.
JS Bach: "Fragments"
Lorenzo Ghielmi, Orgel
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